Bild: Zustand der Haftanstalt in den 1990er-Jahren, als sie noch als Justizvollzugsanstalt genutzt wurde. Der Vernehmertrakt (rechts im Bild), der D-Flügel des früheren MdI-Trakts (im Bild verdeckt) und größtenteils Wachtürme und Außenmauer wurden inzwischen abgerissen. Der B-Flügel (ebenfalls verdeckt) wird gegenwärtig zum Lern- und Gedenkort ausgebaut.
Gerüste, Zellen und Erinnern
von Dr. Steffi Lehmann und Robert Schröpfer
Mit dem Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis entsteht in Chemnitz gegenwärtig eine neue Gedenkstätte an historischem Ort. Was waren die Hindernisse und Meilensteine auf dem Weg dahin? Und was hat uns der Ort noch zu sagen?
Seit seiner Gründung im Jahr 2011 setzt sich der Verein Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. dafür ein, auf dem Gelände der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf dem Kaßberg in Chemnitz, der zentralen Durchgangsstation für aus DDR-Gefängnissen freigekaufte politische Häftlinge, einen Lern- und Gedenkort einzurichten. Im Jahr 2017 wurde an der Außenmauer des ehemaligen Gefängnisgeländes ein Gedenkort eingeweiht. Im Herbst 2023 soll nun der Lernort für Demokratie auf dem Chemnitzer Kaßberg seine Türen dauerhaft öffnen. Damit wird eines der wichtigsten Vereinsziele Realität. Oder wie es der Zeitzeuge Michael Schlosser beim symbolischen Ersten Spatenstich im November 2021 formulierte: „Mit dem heutigen Tag geht ein Wunsch vieler Leidensgenossen und von mir in Erfüllung, das Kaßberg-Gefängnis wird nach langem Warten Gedenkstätte und ein richtiger Lern- und Gedenkort zur Aufarbeitung der Vergangenheit.“ Welche Hindernisse gab es zu überwinden? Wie geht man mit dem Alleinstellungsmerkmal Freikaufhaft und mit der doppelten Diktaturgeschichte um? Wie authentisch ist der historische Ort noch? Wo steht er im Spannungsfeld zwischen Bewahren und Verlust? Was hat uns das Kaßberg-Gefängnis heute zu sagen? Die folgenden Absätze sollen Schlaglichter auf den langen Weg zur Gedenkstätte werfen.
Bild 1: Im ehemaligen Hafttrakt B wird gegenwärtig der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis errichtet.
Die ehemalige Haftanstalt auf dem vorderen Kaßberg, westlich der Chemnitzer Innenstadt gelegen, war gemessen an der Anzahl der Haftplätze das größte Gefängnis der DDR-Staatsicherheit. Als einstiger zentraler Abwicklungsort des Häftlingsfreikaufs besitzt sie darüber hinaus als Erinnerungsort an DDR-Unrecht, deutsche Teilung und die Ambivalenz der innerdeutschen Beziehungen nicht nur eine ostdeutsche, sondern eine genuin deutsch-deutsche Dimension. Aus Gefängnissen in ganz Ostdeutschland wurden politische Häftlinge hier zusammengezogen. Für die meisten der mehr als 33.000 Frauen und Männer, die von der Bundesrepublik zwischen 1962/1963 und 1989 aus der politischen Haft in der DDR freigekauft wurden, gingen von hier aus die Busse in die Freiheit. Der Kaßberg war damit für die Betroffenen die letzte von zahlreichen oft entwürdigenden Haftstationen. Der vonseiten der Bundesregierung humanitär intendierte Tauschhandel, um politische Gefangene freizubekommen, wirft gleichzeitig aber auch Fragen beispielsweise nach einer systemstabilisierenden Wirkung der Ausweisung Oppositioneller und der westlichen Gegenleistungen an das SED-Regime auf sowie nach möglicherweise zusätzlichen Verhaftungen Ausreisewilliger durch die DDR-Staatssicherheit zum Zweck des Devisenerwerbs. Außerdem diente der Gebäudekomplex als Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit für den damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt und zuvor des sowjetischen NKWD. In der Zeit des Nationalsozialismus waren im Kaßberg-Gefängnis Angehörige unterschiedlicher Opfergruppen eingesperrt. Für diese Zeitabschnitte besitzt der Ort regional eine große Bedeutung.
Aus dieser Nutzungsgeschichte ergeben sich unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Anforderungen an den Erinnerungsort, der bisher als institutionalisierter Gedenkort gar nicht existierte. In der DDR nahm eine ideologisierte Erinnerungspolitik Bezug auf einzelne Haftinsassinnen und Haftinsassen des nationalsozialistischen Straf- und Untersuchungsgefängnisses. Das Schicksal der sogenannten Hutholz-Opfer – sieben kommunistischer Widerstandskämpfer, die auf dem Kaßberg inhaftiert gewesen waren, bevor sie kurz vor Kriegsende im März 1945 ermordet wurden – hatte im offiziellen Gedenken Karl-Marx-Stadts einen Platz. Bereits 1956 wurde am Ort ihrer Ermordung am südlichen Stadtrand ein Mahnmal errichtet. Eine Gedenkstätte im Kaßberg-Gefängnis, dem Ort ihrer Haft und Station auf den Leidenswegen vieler weiterer Verfolgter, aber entstand nicht. Stattdessen schrieben die sowjetische Besatzungsmacht und später das SED-Regime die Geschichte des Gefängnisses als politischem Haftort unter veränderten Vorzeichen fort, naturgemäß ohne ein gesteigertes Interesse an Öffentlichkeit, im Gegenteil.
Und während mit der Friedlichen Revolution von 1989/90 in Leipzig, Dresden, Erfurt und Ost-Berlin auch die Haftorte der Staatssicherheit in den Fokus rückten, konzentrierte sich das Geschehen in Karl-Marx-Stadt auf die Sicherstellung der Akten stadtauswärts in der Jagdschänkenstraße. Im Kaßberg-Gefängnis schauten, wie später berichtet wurde, zur Bewachung abgestellte Schließer aus dem benachbarten Hafttrakt des Ministeriums des Innern dabei zu, wie Stasi-Mitarbeiter Papiere und Gerätschaften beiseiteschafften. Ab 1990 betrieb der Freistaat Sachsen dann unter von Grund auf veränderten, rechtsstaatlichen Bedingungen den mehrfach belasteten Haftort als Justizvollzugsanstalt weiter. Geschlossen wurde das Gefängnis erst zwei Jahrzehnte später im Jahr 2010, nachdem Brandschutzmängel festgestellt worden waren.
In den darauffolgenden Jahren, in denen es dem Verein gelang, vor allem die DDR-Geschichte stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, äußerten dann Vertreterinnen und Vertreter von Opfergruppen aus der Zeit des Nationalsozialismus die Sorge, ihre Ansprüche könnten bei einer Gedenkstättenkonzeption gegenüber dem zeitlich näheren Thema Staatssicherheit und der deutsch-deutschen Bedeutung der Freikaufhaft zu wenig Beachtung finden. Wie gibt man den Opfern der verschiedenen Zeitabschnitte Raum? Wie sind Hierarchisierungen von Leid und Leidtragenden zu vermeiden und wie Gleichsetzungen? Auch das waren Problemstellungen, mit denen sich der Verein wie seine Unterstützerinnen und Unterstützer fortan auseinanderzusetzen hatten.
Bild 2: Blick ins Innere des ehemaligen Hafttrakts B.
Im Frühling 2011 nahm der damalige Leiter der Chemnitzer BStU-Außenstelle Dr. Clemens Heitmann an einer Gedenkveranstaltung für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 an der Gedenkstele in der benachbarten Hohen Straße teil. „Ich war damals sehr bewegt und wollte schauen, wie an diese Schicksale erinnert wird“, blickte er später zurück. „Und ich fand dann ein einsames, billiges Plastikschild: ,Zu verkaufen‘. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, nein, eine Verpflichtung verspürt, ich müsse etwas tun.“ Damals bestand die reale Gefahr, der gesamte Gebäudekomplex des gerade außer Dienst gestellten Kaßberg-Gefängnisses könnte im Zuge einer kommerziellen Verwertung womöglich einfach abgerissen werden und von der Bildfläche verschwinden – und mit ihm die Schicksale, die sich mit ihm verbinden.
Von Berlin aus brachte der Leiter der damaligen BStU, Roland Jahn, deshalb die Idee in die Diskussion, die Chemnitzer Außenstelle seiner Behörde mit ihren Akten in den ehemaligen Hafttrakten unterzubringen. Im November 2011 gründete Clemens Heitmann dann gemeinsam mit sieben Mitstreiterinnen und Mitstreitern den Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. mit dem Ziel, den Gebäudekomplex zu erhalten und in einem Teil davon einen Gedenkort zu etablieren. Mit hartnäckiger Überzeugungsarbeit erreichte die Gruppe einen Landtagsbeschluss, der ihr Anliegen unterstützte und dessen Beachtung bei einem Grundstücksverkauf einforderte. „Hanka Kliese, Frank Heinrich, Raimund Köhnen, Ronald Langhoff, Thomas Ranisch, Siegfried Reiprich, Volkmar Zschocke und ich“, so Clemens Heitmann, „wollten einen dunklen, kalten, leerstehenden Gefängnisbau vor dem Abriss und dem Vergessen bewahren. Wir wollten dort an Geschichte erinnern, eine Ausstellung schaffen, Menschen zueinander bringen und mit Menschen ins Gespräch kommen. Wir wollten eine Wunde heilen – bei den betroffenen Menschen und in der Stadt Chemnitz.“
Tatsächlich traf der junge Verein mit seinem Engagement einen Nerv: Hatten die Betroffenen vielfach über ihre Geschichte geschwiegen – unter Drohung, bei Bekanntwerden ihres Schicksals weitere Freikäufe zu gefährden, und dann nach dem Mauerfall aus verschiedenen persönlichen Gründen –, setzte ungefähr zeitgleich mit der Vereinstätigkeit auch eine verstärkte wissenschaftliche und publizistische Beschäftigung mit dem Thema ein. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die aus verschiedenen Regionen der DDR stammten und heute über das gesamte Bundesgebiet verstreut leben, suchten den Kontakt zum Verein und begannen, ihre Geschichten zu erzählen. Erinnerungsbücher erschienen, im Jahr 2013 mit „Via Knast in den Westen – Das Kaßberg-Gefängnis und seine Geschichte“ ein von Dr. Nancy Aris und Dr. Clemens Heitmann herausgegebener Sammelband mit Beiträgen zur Vergangenheit des Haftorts und – unabhängig vom Verein – 2014 mit „Der Häftlingsfreikauf 1962/63–1989 – Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen“ von Dr. Jan Philipp Wölbern die erste große zeithistorische Studie zum Thema Häftlingsfreikauf.
In der Stadt des Kaßberg-Gefängnisses selbst kamen Einwohnerinnen und Einwohner zu Hunderten, seitdem das ehemalige Gefängnis im Jahr 2012 zum ersten Mal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Die Chemnitzerinnen und Chemnitzer wollten den Ort sehen, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hören und das, was diesen dort und an den vorangegangenen oder nachfolgenden Haftorten wie Bautzen, Brandenburg, Cottbus oder bei den Frauen häufig im berüchtigten Zuchthaus Hoheneck widerfahren war. Schon auf dem Weg zum Lern- und Gedenkort wurde das ehemalige Kaßberg-Gefängnis so zu einem Hotspot der Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit.
Bild 3: Blick auf die Baustelle im ehemaligen Hafttrakt B.
Baulich tat sich allerdings längere Zeit nicht viel. Große Überlegungen mit Neubauten und Eingriffen in die originale Substanz des Gebäudes wurden im Jahr 2013 verworfen. Am 17. Juni 2014 ließ die Stiftung Sächsische Gedenkstätten zunächst eine Bautafel aufstellen. Parallel dazu liefen Verkaufsverhandlungen für das gesamte Grundstück. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt sagen, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln und was genau aus dem Ort werden würde. „Wir setzten indessen unverdrossen unsere Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit fort und organisierten Ausstellungen, Vorträge oder Führungen“, blickte später Jürgen Renz, seit 2013 und bis heute Vereinsvorsitzender, auf diese Phase der Ungewissheit zurück. „Das Interesse der Bevölkerung an dem ehemaligen Gefängnis inmitten des beliebten Wohnquartiers Kaßberg erreichte in den Museumsnächten Spitzenwerte und bescherte uns Besucherzahlen im vierstelligen Bereich.“ Am Vereinsziel, der Errichtung eines Lern- und Gedenkorts, hielten die Ehrenamtlichen weiterhin fest, auch wenn die Meinungen über den Weg dorthin auseinandergingen. Einzelne Vereinsmitglieder befürchteten, der Verein werde mit dem vergleichsweise kleinen Gedenkort „ruhiggestellt“ und die eigentliche Gedenkstätte damit hinfällig.
Im Jahr 2016 konnte der Verein dann ein Stück der Außenmauer des ehemaligen Gefängnisses und einen Wachturm mit dem dazugehörigen Grund und Boden erwerben und bekam durch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten einen Etat zur Entwicklung eines Gedenkorts am Rande des einstigen Gefängnisgeländes in der Kaßbergstraße zur Verfügung gestellt, um den Siegerentwurf eines von der Stiftung initiierten Ideenwettbewerbs umzusetzen.
Die Gestalter um den Berliner Architekten Martin Bennis und die Ausstellungsgrafiker Weidner Händle Atelier Stuttgart fanden eine so würdevolle wie sinnfällige Lösung: Der 2017 eröffnete Gedenkort verbindet das Vorgefundene mit gebauten Gesten des Gedenkens und Informationen und umfasst heute neben den Mauersegmenten und dem Wachturm, die auf diese Weise erhalten bleiben konnten, mehrere gläserne Ausstellungstafeln zur Gefängnisgeschichte, die bei Dunkelheit aus dem Inneren erleuchtet werden. Auch Haftschicksale aus den verschiedenen Zeitabschnitten werden erzählt, wobei zur Straßenseite der einstigen Gefängnismauer hin die Zeit zwischen 1945 und 1989, zur Innenseite hin die von 1933 bis 1945 erinnert wird. Ein Gedenkstein auf der einen Seite ist den Opfern der kommunistischen Diktatur gewidmet, und eine Gedenkschrift an der anderen würdigt die Inhaftierten in der Zeit des Nationalsozialismus. Auf diese Weise spiegelt der Gedenkort die doppelte Diktaturgeschichte des Kaßberg-Gefängnisses wider, ohne Vermischungen, Hierarchisierungen oder Gleichsetzungen vorzunehmen. Beide Zeitabschnitte erhalten ihren eigenen Raum.
Der Gedenkort ist das Erste, was die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sehen, wenn sie den früheren Haftort für die persönliche Aufarbeitung besuchen, und immer wieder bleiben Passantinnen und Passanten vor der Mauer stehen. Damit wurde er in verschiedener Hinsicht zu einer Visitenkarte: als Einladung hin zur Stadtgesellschaft und Besuchern gegenüber sowie als Empfehlung des Vereins an die Fördermittelgeber hinsichtlich der eigenen Befähigung, große Projekte inhaltlich, gestalterisch und organisatorisch umsetzen und dabei mit vielen Partnern zusammenarbeiten zu können.
Zeitgleich mit der Eröffnung des Gedenkorts im Frühjahr 2017 erfolgte ein weiterer Professionalisierungsschub. Damals trat Volker Bausch, einstiger Leiter der Gedenkstätte Point Alpha an der ehemaligen innerdeutschen Grenze in der hessisch-thüringischen Rhön, dem Verein bei und engagierte sich bald im Vorstand. Seit Volker Bausch den Verein begleitete, ist dieser in großen Schritten den Weg zur Gedenkstätte gegangen. Ohne sein Hintergrundwissen und seine Aktivitäten im Bereich Vernetzung und Kommunikation wäre dies nicht möglich gewesen. Volker Bausch verstarb im Sommer 2019 nach schwerer Krankheit. Selbst während des Krankheitsverlaufs arbeitete er am Konzept der Gedenkstätte weiter mit. Der künftige Lern- und Gedenkort im ehemaligen Kaßberg-Gefängnis trägt seine Handschrift. Auch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Historiker und Gedenkstättenentwickler Peter Wellach und seinem Büro beier+wellach projekte wurde von ihm initiiert.
Vorher hatten sie gemeinsam die Gedenkstätte Point Alpha und den historischen Ort als Lernort weiterentwickelt. Im Februar 2018 begann nun die Erarbeitung eines Betriebs- und Nutzungskonzepts mit der Konzeption von Gedenkstätte und Dauerausstellung zur Erlangung einer Förderung der Bundesregierung. Zeitgleich wurde das Kaßberg-Gefängnis an einen Immobilienentwickler aus Chemnitz, die Cegewo, verkauft. Die Verpflichtung zur Integration einer Gedenkstätte in einem Teil des Gebäudekomplexes wurde Teil des Kaufvertrags. Dies war ein weiterer großer Erfolg des Vereins. Mit der Sicherstellung des ehemaligen Hafttrakts B für die Einrichtung eines Lernorts, der den bestehenden Gedenkort in der Kaßbergstraße ergänzt, konnte das große Projekt überhaupt erst angegangen werden. Seit 2018 wird der Hafttrakt B nun zu einer voll funktionsfähigen Gedenkstätte entwickelt. Es konnten Förderungen von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, vom Freistaat Sachsen und von der Stadt Chemnitz sowie von der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten erlangt werden und die Zusage des Landes wie der Stadt für die Finanzierung des Betriebs.
Bild 4/5: Der Gedenkort an der Außenmauer des ehemaligen Gefängnisses wurde bereits 2017 eröffnet. Bild 4zeigt den Zeitzeugen Wolfgang Lötzsch im Herbst 2021 im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern, Bild 5 Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung im März 2022.
Ein Kran dreht sich über den Gefängnisdächern, vor den Fassaden von C-Flügel und Verwaltungsbau stehen Balkone. Der ehemalige Vernehmertrakt – abgerissen, genauso wie der D-Flügel, den in der DDR das Ministerium des Innern als Haftanstalt nutzte, sowie der größte Teil der Außenmauer und Wachtürme. Wenn man sich im Herbst 2022 der Baustelle des ehemaligen Kaßberg-Gefängnisses nähert, wird schnell klar, dass sich das Gelände stark verändert hat und weiter in Veränderung begriffen ist. Für den ehemaligen Hafttrakt B, jenen Gebäudeteil, in dem einst die Freikaufhäftlinge eingesperrt waren und dessen Inneres nun zum Lern- und Gedenkort ausgebaut wird, schrieb der Denkmalschutz eine Fassadengestaltung vor, die sich an der Errichtungszeit in den 1870er-Jahren orientiert, und nicht an den näheren, zeitgeschichtlich relevanteren Jahrzehnten, den 1970er- und 1980er-Jahren der DDR.
Vor allem aber sind die Überformungen und Verluste auch dem Umstand geschuldet, dass die weitere Nutzung des Gefängnisses nach dem Ende der DDR und unter rechtsstaatlichen Bedingungen bauliche Veränderungen und eine andere Ausstattung notwendig nach sich zog. Dass zum Beispiel Sichtblenden vor den Fenstern erhalten geblieben wären, erscheint unter zeithistorischen Gesichtspunkten vielleicht wünschenswert, wäre in einer Justizvollzugsanstalt im bundesdeutschen Rechtsstaat aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht hinnehmbar gewesen.
„Die historischen Schichtungen des Ortes anzunehmen und mit ihnen produktiv zu arbeiten, ist eine spannende Aufgabe“, sagt Projektleiter Peter Wellach über die Herausforderungen, die sich den Gedenkstättenentwicklerinnen und -entwicklern an diesem Ort stellen. „Gedenken und Lernen im historischen Ort zu verbinden mit neuem Leben in den zu Wohnzwecken umgebauten Gefängnisbereichen, eröffnet neue Perspektiven auf die schwierige Geschichte des Kaßberg-Gefängnisses. Der Ort hält in seiner Ambivalenz Erinnerung wach und im Spannungsfeld zwischen dem Heute und dem Vergangenen.“
Es ist ein Ort der Zeitsprünge und Widersprüche, der hier entsteht, ein Ort, an dem verschiedene Zeitebenen und Nutzungen nebeneinanderstehen, einander überlagern und aufeinanderprallen werden. Die Gedenkstätten- und Ausstellungskonzeption des Vereins und seines Partners beier+wellach projekte geht mit den Gegebenheiten um, indem sie in einem Außenrundgang verschwundene Gebäudeteile erinnert. Ein Tastmodell wird die Baugeschichte, Infopulte und -stelen werden verschwundene Gebäude mithilfe einer App fürs Smartphone und sogenannter Augmented Reality vergegenwärtigen, etwa die frühere aufwendig abgesicherte Fahrzeugschleuse, über die unter anderem die Reisebusse mit Freikaufhäftlingen das Gefängnisgelände Richtung A4 und Grenzübergang Wartha/Herleshausen verließen. Die sogenannten Freigangzellen, tortenstückartige enge Zellen, allerdings ohne Überdachung, in denen die Untersuchungshäftlinge ihren Hofgang absolvieren mussten und die damit für viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen das „Menschenunwürdigste“ waren, wie es der frühere politische Häftling Wolfgang Lötzsch beschreibt, wurden in den 1990er-Jahren abgerissen. Sie werden nun mithilfe von intarsienartigen Einlassungen im Boden als Grundriss erinnert.
Auch im Gebäudeteil des Lern- und Gedenkorts fanden die Projektentwicklerinnen und -entwickler sowie Architekt Marc Rennfleisch vom Chemnitzer Büro Rennfleisch Architekten keinen unveränderten Originalzustand vor. Zwar ist mit Hafthalle, Freitreppe, zwei Galerien und den Zellengrundrissen die Struktur im Wesentlichen erhalten geblieben. Die Ausstattung – Türen, Glasscheiben statt der Glasbausteine – aber hatte der Freistaat Sachsen für die Weiternutzung des Objektes nach 1990 den bundesrepublikanischen Standards angepasst. Hinzu kamen die lange Zeit des Leerstands, die Erhaltungsmaßnahmen erforderlich machte, und Anforderungen an ein Haus mit erwartbar starkem Publikumsbetrieb. Aus Brandschutzgründen wurde beispielsweise ein zweites Treppenhaus, für die Barrierefreiheit ein Aufzug notwendig. Für eine bessere Tragfähigkeit wurden im Gebäude vielfach zusätzliche Stahlträger verbaut. Im Erdgeschoss, den einstigen Räumen des sogenannten Frauen-Arbeitskommandos, entstehen moderne Büro- und Seminarräume für die Bildungsangebote und die Empfangsräume des Lernorts, während das Bestandstreppenhaus in Zukunft als eine Art Zeittunnel zum darüber gelegenen eigentlichen Hafttrakt fungiert, der von Überformungen der bundesrepublikanischen Zeit – etwa Türen und Sanitärausstattungen der Zellen – weitgehend bereinigt worden ist.
Mit einem umfangreichen denkmalpflegerischen Programm wurden außerdem restauratorische Untersuchungen umgesetzt. Die Farbgebung des Haftgebäudes im Innern wird wieder in die 1970er- und 1980er-Jahre zurückgeführt. Das bauzeitlich erhaltene Treppenhaus wurde restauratorisch bearbeitet, die Freitreppen werden zurückgebaut und die alten Stufen rekonstruiert. In drei sogenannten Schauzellen werden vergangene Zustände wiederhergestellt, die die Ausstattung in NS-Zeit, MfS-Untersuchungs- beziehungsweise Freikaufhaft vergegenwärtigen.
Im Zentrum des Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis und seiner Dauerausstellung werden Haftschicksale und Biografien einstiger politischer Gefangener stehen. Jedem der drei Geschosse im eigentlichen Hafttrakt ist dabei ein eigener Zeitabschnitt zugeordnet: In den Zellen des ersten Obergeschosses werden Lebenswege von zwanzig Freikaufhäftlingen aus der DDR erzählt, in den Zellen im zweiten Geschoss von vier Untersuchungshäftlingen des sowjetischen NKWD und sechs der Staatssicherheit. Alle in der Ausstellung vertretenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen dieser Epochen konnten in Videointerviews befragt werden. Die Zeitzeugenbiografien, die ein Redaktionsteam von beier+wellach projekte in Zusammenarbeit mit dem Verein, dem Stasi-Unterlagenarchiv, Historikern und nicht zuletzt mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen selbst oder deren Angehörigen recherchiert, bilden dabei auch einen Fundus, in dem Schülerinnen und Schüler später als Workshopteilnehmer aktiv forschen und auseinandersetzen können.
In den Zellen des dritten Obergeschosses geht es um die Lebenswege von Angehörigen unterschiedlicher Opfergruppen in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch hier wurden Protagonistinnen und Protagonisten gefunden. Für zwanzig Opfer – inhaftierte Juden, Sozialdemokraten, Kommunistinnen und Kommunisten, Zwangsarbeiter, einen Zeugen Jehovas – wird versucht, die biografischen Hintergründe zu recherchieren und jeweils in die Zellen einzutragen. Bei der Darstellung dieser Nutzungsperiode will der Verein ebenfalls über die persönliche, biografische Annäherung Empathie für die Opfer erzeugen und dann erst die Hintergründe der Diktatur und der Täter zeigen. Zuerst sollen die Besucherinnen und Besucher mit den Opfern konfrontiert werden. Im sogenannten Kopfbau, der sich an den eigentlichen Hafttrakt mit den früheren Zellen anschließt, vermittelt dann ein Ausstellungsrundgang – wie auch auf den Ebenen der Freikaufhaft und der Untersuchungshaft der Staatssicherheit und des NKWD – in einem zweiten Schritt historische Zusammenhänge.
Bild 6: In der Kaßbergstraße wurden zwei Wohngebäude auf dem Gelände des früheren Gefängnisses errichtet. Zwischen den Häusern ist im Hintergrund der Mittelbau des Gefängniskomplexes, die sogenannte Rotunde, zu sehen.
Anziehungskraft besitzt ein historischer Ort wie das Kaßberg-Gefängnis offenbar nicht nur für Erinnerung und Aufarbeitung, für historisch-politische Bildung, für Selbstvergewisserung und -verständigung der demokratischen Gesellschaft, sondern auch für deren Gegnerinnen und Gegner. Zum 67. Jahrestag des Volksaufstands gegen das kommunistische Regime in der DDR hielt am 17. Juni 2020 eine Besuchergruppe in Begleitung eines Zeitzeugen und Vereinsmitglieds eine Veranstaltung am Gedenkort an der Außenmauer ab, darunter Vertreter der rechtspopulistischen AfD und der vom sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuften Wählervereinigung „Pro Chemnitz“. Der Verein hatte bereits im Vorfeld seine Missbilligung der Veranstaltung auf seinem Grundstück zum Ausdruck gebracht, indem er die Ausstellungstafeln an den Mauersegmenten mit Transparenten verhängte, die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zitierten. Als einige Monate später ein weiterer Zeitzeuge in einem Video der vom Verfassungsschutz ebenfalls als rechtsextremistisch eingestuften Kleinpartei „Freie Sachsen“ auftrat, wenn auch ohne Kaßberg-Bezug, beschloss der Vorstand des Vereins, die Zusammenarbeit mit beiden Zeitzeugen auszusetzen. Wer darf hier gedenken? Gibt es gutes und schlechtes, richtiges und falsches Erinnern? Kann man Gedenken verbieten? Wie setzt man sich gegen Instrumentalisierungsversuche zur Wehr?
Der Trägerverein des künftigen Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis hat sich dazu immer wieder und deutlich positioniert. Hieß es von Beginn an in der Satzung: „Der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. will die Idee der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie schützen und fördern“, wurde im Juni 2022 noch einmal geschärft: „Das schließt eine Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern demokratiefeindlicher Organisationen aus.“ Weiterhin erklärt sich der Verein als „offen für alle Interessierten, die sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen“.
„Es braucht eine klare Sprache bei denen, die Demokratie verteidigen, gegenüber jenen, die versuchen, sie auszuhöhlen“, sagt der Landtagsabgeordnete und Vereinsvorstand Alexander Dierks in einem Interview der Chemnitzer Tageszeitung „Freie Presse“ mit ihm und weiteren Vorstandsmitgliedern. „Alle Demokraten tun gut daran, diese Klarheit an den Tag zu legen.“ Das bedeute, wie es an anderer Stelle heißt, keine Abwertung von Biografien und kein Verbot anderer Meinungen, aber die Freiheit zu entscheiden, mit wem man zusammenarbeiten wolle.
Begründet wird diese Haltung in Bezug auf den Kaßberg vor allem mit zwei Argumenten: der Demokratieförderung, die auch in zahlreichen Bildungsangeboten des Vereins ihren Ausdruck findet, und – hier spiegelt sich erneut die Vollwertigkeit der Auseinandersetzung mit allen Haftperioden – der Verantwortung gegenüber den Angehörigen der verschiedenen Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgung genauso wie auch den Zielen der DDR-Opposition. „Es gibt Verfassungsfeinde in diesem Land, und es gibt Menschen, die mit diesen Verfassungsfeinden kooperieren“, erklärt die Landtagsabgeordnete Hanka Kliese, Mitbegründerin des Vereins und ebenfalls Vorstandsmitglied, im selben Zeitungsgespräch. „Von denen wollen und können wir uns nicht repräsentieren lassen. Aber die Grenze verläuft auch dort, wo gezielt versucht wird, Geschichte neu und anders zu schreiben. Etwa, dass der Holocaust verharmlost werden soll. Hier haben wir eine Verantwortung nicht zuletzt gegenüber den Opfern aus der Zeit des Nationalsozialismus.“
Volkmar Zschocke, auch er Landtagsabgeordneter, Vereinsmitgründer und Vorstandsmitglied, fügt mit Blick auf die Haftperiode zwischen 1945 und 1989 hinzu: „Das gilt ebenso für das Erinnern an die DDR und an die Friedliche Revolution. Wer die Demokratie angreift, der steht nicht in der Tradition der Friedlichen Revolution. Oder wer die heutige Situation mit der DDR vergleicht, der verharmlost Diktatur in schlimmster Weise. Wir sind 1989 für die Freiheit auf die Straße gegangen und nicht für Menschenverachtung. Wir haben uns nach Weltoffenheit und Demokratie gesehnt, nicht nach Nationalismus.“
Neben seiner Funktion als Gedenkstätte für die Verfolgten der NS-Diktatur und die Opfer des kommunistischen Regimes ist Demokratiebildung ein zentrales Anliegen für den künftigen Lern- und Gedenkort: die Herausforderung zum Vergleich und die Befähigung zum Differenzieren. Workshops, Zeitzeugengespräche, Führungen zum Kaßberg-Gefängnis in der Zeit des Nationalsozialismus und in den Jahrzehnten des kommunistischen Regimes sollen angeboten werden. Dabei geht es nicht um eine Indienstnahme von Geschichte, Erinnern und Leid für die Gegenwart – sie bekommen selbstverständlich einen eigenen Wert zugemessen –, sondern jungen Leuten werden sich im Abgleich mit den eigenen Erfahrungen zwangsläufig auch Fragen nach dem Heute und Gestern stellen, nach dem Leben in Freiheit und Diktatur, die am Lern- und Gedenkort fundiert und diskutiert werden sollen. Zentral ist dabei – mit Blick auf die deutsch-deutsche Dimension des Ortes – auch die Bearbeitung der Thematik Zusammenarbeit oder Abgrenzung von Demokratien und Diktaturen, die ebenfalls starke Relevanz für die Gegenwart besitzt.
„Ich komme aus einem Land, wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht galt, und ich habe meinen Hintern riskiert, um aus der DDR zu dieser Grundordnung zu kommen und da zu leben. Von daher bin ich natürlich sehr daran interessiert, dass stabile demokratische Rahmenbedingungen und die Freiheitsrechte weiter existieren“, so formuliert der Zeitzeuge Falk Mrázek mit Bezug auf die eigene Biografie. „Deshalb ist der Lern- und Gedenkort auf dem Kaßberg für mich genau der Ort, wo man sehen kann, welche Auswirkungen es haben kann, wenn man nicht aufpasst, die Demokratie, die Freiheit des Individuums und sein Selbstbestimmungsrecht zu bewahren und dafür den rechtlichen Rahmen zu bieten.“ In diesem Sinne soll der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis mit seiner doppelten Diktaturgeschichte, mit dem Nebeneinander verschiedener Nutzungen und Zeiten ein Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein, aber auch mit Gegenwart und Zukunft.
Kurzbios:
Dr. Steffi Lehmann ist Politikwissenschaftlerin und seit 2017 für den Verein tätig, seit November 2022 im Führungsduo der Gedenkstättenleitung, Robert Schröpfer, von Haus aus Journalist, seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. in Chemnitz. Die Website der künftigen Gedenkstätte finden Sie unter www.gedenkort-kassberg.de.
Fotos: i.A.
Bild 1: Im ehemaligen Hafttrakt B wird gegenwärtig der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis errichtet.
Bild 2: Blick ins Innere des ehemaligen Hafttrakts B.
Bild 3: Blick auf die Baustelle im ehemaligen Hafttrakt B.
Bild 4/5: Der Gedenkort an der Außenmauer des ehemaligen Gefängnisses wurde bereits 2017 eröffnet. Bild 4 zeigt den Zeitzeugen Wolfgang Lötzsch im Herbst 2021 im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern, Bild 5 Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung im März 2022.
Bild 6: In der Kaßbergstraße wurden zwei Wohngebäude auf dem Gelände des früheren Gefängnisses errichtet. Zwischen den Häusern ist im Hintergrund der Mittelbau des Gefängniskomplexes, die sogenannte Rotunde, zu sehen.
Bild 7: Freigelegte Farbschichten über dem Türsturz einer Zelle im Hafttrakt B. Solche restauratorische Befunde sollen in der Ausstellung sichtbar bleiben.
Bild 8: Die Bautafel am bereits bestehenden Gedenkort an der Außenmauer des ehemaligen Gefängnisses. Alle Fotos: © Verein
© Verein
Bild 7: Freigelegte Farbschichten über dem Türsturz einer Zelle im Hafttrakt B. Solche restauratorische Befunde sollen in der Ausstellung sichtbar bleiben.