Spurensicherung, Erinnerungsorte und historische Authentizität

 

Von Achim Saupe1

Erinnerungsorte leben von ihrer Authentizität. Doch was heißt das eigentlich? Warum sind Authentizität und das Authentische in der Erinnerungskultur so wichtig geworden? Und mit welchen Problemen ist man konfrontiert, wenn man sich auf das Authentische beruft? Dies sind Fragen, die im Leibniz-Forschungsverbundes „Historische Authentizität“ bearbeitet wurden, der sich von 2013 bis 2021 diesem Topos und seiner Relevanz in der Geschichtskultur der Gegenwart gewidmet hat.2 Hier soll ein Beispiel aus der Aufarbeitung der SED-Diktatur herangezogen werden, um sich der Bedeutung des Authentischen zu nähern.

 

 

 

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Die „Runde Ecke“ Leipzig

Runde Ecken gibt es bekanntlich nicht. Oder nur als Paradox oder in Leipzig. Und so hat die „Gedenkstätte Museum in der ‚Runden Ecke‘“ in Leipzig gleich einiges gemeinsam mit dem Authentischen, dessen paradoxale und fluide Struktur in der Forschungsliteratur oftmals beschrieben worden ist.

Die „Runde Ecke“ in Leipzig ist sicherlich ein Ort, an dem sich der Eindruck des Authentischen in mehrfacher Weise einstellt.3 Das Gebäude, in dem 40 Jahre lang die Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit ihren Sitz hatte, beherbergt heute das Gedenkstätten-Museum. Der repräsentative Bürobau aus dem frühen 20. Jahrhundert, der wegen seiner geschwungenen Eckform als „Runde Ecke“ bezeichnet wird, ist ein Überbleibsel aus Vorkriegszeit in einer Nachbarschaft, die ansonsten von jüngeren Bauten bestimmt wird. Im Haus waren nach dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit die amerikanische und dann die sowjetische Militäradministration untergebracht. Nach Gründung des MfS, ein Jahr nach der Gründung der DDR richtete sich hier die Stasi mit ihrem Überwachungsapparat ein.

Am heutigen Eingang der Gedenkstätte befindet sich eine Kopie jenes Schildes, das bis 1989 hier zu lesen war: „Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig“. Ergänzend wird nüchtern hinzugefügt: „Bürger besetzten sie während der Montagsdemonstration am 4. Dezember 1989“. Einige dieser Bürger machten sie kurz darauf zu einem Museum über die Stasi, und setzten sich damit auch selbst ein Denkmal.

Der Verein „Bürgerkomitee Leipzig e.V. für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (MfS)“ betont auf seiner Website, dass die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ „heute als original erhaltener authentischer Ort ein weit über Leipzig, Sachsen und Deutschland hinaus anerkanntes Fachmuseum mit einer in ihrer Geschlossenheit einmaligen musealen Sammlung zur Staatssicherheit im Kontext der kommunistischen Diktatur in SBZ und DDR“ ist.4 Seit Jahren, so die Website, sei man das drittbestbesuchte Museum der Stadt Leipzig. Das Bürgerkomitee Leipzig e.V. sei jedoch nicht nur der Träger der Gedenkstätte, sondern auch an „drei weitgehend original erhaltenen Orten der kommunistischen Diktatur in und um Leipzig aktiv“. Zur Gedenkstätte gehören nämlich auch die Open-Air-Ausstellung „Orte der Friedlichen Revolution“, das Museum im Stasi-Bunker bei Machern und die ehemalige Zentrale Hinrichtungsstätte der DDR in der Leipziger Südvorstadt. Mit dem „Motto ‚Zeitgeschichte am Originalort‘“, der ja zugleich auch ein vielfacher Tatort der Repression war, versucht man, das Publikum für die Geschichte des SED-Unterdrückungsapparates zu interessieren.

Man sieht am Leipziger Beispiel, wie wichtig die Bedeutung des Authentischen und des Originalen den Museums- und Gedenkstätten-Macher:innen ist. Das Ziel des Vereins sei es, die „Erinnerung an das Unrechtsregime der DDR wachzuhalten und Tendenzen der Ostalgie entgegenzuwirken“, und dabei soll der „Blick für die aktuellen Gefahren totalitärer Ideen und diktatorischer Systeme“ geschärft werden. Hervorgehoben wird auch, dass die Gedenkstätte zum Europäischen Kulturerbe „Eiserner Vorhang“ zähle. Neben der Nikolaikirche und dem Leipziger Innenstadtring sei sie eine „von zwölf authentischen Stätten des ‚Eisernen Vorhangs‘“, wobei Leipzig der einzige Ort in diesem Netzwerk ist, der nicht an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze liege. Dies unterstreiche den „Symbolgehalt Leipzigs als Ort der Friedlichen Revolution“.

Man kann in dieser Betonung des Authentischen unschwer die Anforderungen der Gedenkstätten-Konzeption der Bundesrepublik Deutschland herauslesen.5 In diese hatte der Begriff des „authentischen Orts“ 1999 Eingang gefunden. 2008 wurde er nochmals als ein wichtiges Kriterium für eine Förderung bestätigt.6 Dabei wurde der Begriff des authentischen Orts von den Gedenkstätten auch dazu genutzt, sich gegenüber sonstigen Mahnmalen und Erinnerungsstätten – wie etwa dem Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte – abzugrenzen. Zugleich gab und gibt es aber auch ein tiefes Unbehagen in der Gedenkstättenszene gegenüber dem Begriff des authentischen Ortes, da diese Orte natürlich vielfach überschrieben bzw. verändert und unterschiedlich genutzt worden sind. Die Kritik am Authentizitätsbegriff zielt dabei meist auf ein unreflektiertes Eintauchen, die Unmittelbarkeit und (vermeintliche) Erlebbarkeit von Geschichte. Letztlich unterstellen die Kritiker, dass die Authentizitätsillusion keine kritische, reflektierte Distanz ermögliche und auf Erlebnis statt Erkenntnis setzt.7 Lieber wollten sie vom „historischen Ort“ sprechen.8

Authentizität als Annäherung an vergangene Wirklichkeit

In Leipzig können sich die Besucher:innen heute in ehemaligen Büros der Stasi-Offiziere über Funktion, Arbeitsweisen und Geschichte des MfS informieren. Das Bürgerkomitee hat „versucht“, so die Website recht bescheiden, „das authentische Umfeld weitgehend zu erhalten, um die Gäste etwas von der Arbeitsatmosphäre erahnen zu lassen, die bis 1989 in der ‚Runden Ecke‘ herrschte. Linoleumfussboden, gelbbraune Tapeten, Scherengitter an den Türen und Fenstern, Kabelkanäle und alte Heizkörper sind noch im gesamten Museum zu sehen. Die Ausstellung ist im Wesentlichen unmittelbar während der Friedlichen Revolution 1990 entstanden und zeigt den Aufarbeitungsimpuls der Bürgerbewegung. Geschichte wird hier sicht- und greifbar.“9 Fast meint man beim Hineingehen, noch jenen Lineoleum-Geruch zu riechen, der für viele Gebäude in der DDR so charakteristisch war. Es ist die „sinnliche Anmutungskraft“10 der Dinge, die uns den Zeitensprung ermöglicht.

Geboten wird in der „Runden Ecke“ mindestens eine dreifache Authentizität: Denn neben dem Einblick in die Arbeit der Stasi bekommen die Besucher:innen nicht nur einen Eindruck von der Situation, in der sich die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler vor mehr als dreißig Jahren befanden, als das Haus besetzten und über die Arbeit der Stasi aufklären wollten. Die Ausstellung ist darüber hinaus schon selbst ein Zeitdokument. Sie besticht mit ihren bescheidenen Mitteln und dem aktivistischen Charme einer „Geschichte von unten“ und der „Spurensicherung“11: In alten Vitrinen und auf den einfach gestalteten Schautafeln im Stil einer Wandzeitung werden eine Fülle von Fotos und Dokumenten präsentiert, die die „Macht und Banalität“ der Stasi, wie es heißt, ins Visier nehmen. Und so wird neben der Bedeutung der Stasi für die DDR nicht nur ihre kritische Aufarbeitung durch die Bürgerrechtsbewegung präsentiert, sondern zugleich auch ihr mediales „Making of“ deutlich, das gerade durch den zeitlichen Abstand so stark auffällt. Eine Präsentationsform, die selbst historische Authentizität für sich beanspruchen kann.

In der Debatte über die Neugestaltung der Ausstellung wird dieser Reiz des Authentischen oftmals gegenüber der geforderten Professionalisierung und Modernisierung hervorgehoben. Doch kann man diesen Reiz noch bewahren, wo nach über 30 Jahren die Wandtafeln weiter altern und die Fotos vergilben? Oder ihn gar rekonstruieren?12

Ganz offen kommuniziert der Trägerverein der Museumsgedenkstätte, dass die Ausstellung ein „Versuch“ ist, die authentische Atmosphäre und das originale Ding-Arrangements weitgehend zu erhalten. Das ist eine gute Beschreibung, denn der Eindruck der Authentizität, so kann man festhalten, stellt sich nie unvermittelt dar. Zwar paart sich Authentizität mit dem Eindruck von Unmittelbarkeit, aber sie ist immer medial vermittelt. Darüber hinaus ist das Authentische nicht allein das Echte und Originale, das von Expert:innen beglaubigt wird, sondern dem heutigen allgemeinen Sprachgebrauch nach dasjenige, das sich in der Darstellung einem vergangenen Ereignis oder Setting in „größtmöglicher“ Authentizität annähert.13 Das Wort „authentisch“ wird also heute stärker relational gebraucht, als das manche Authentizitätskritiker:innen wahr haben wollen. Freilich finden sich immer wieder auch Faktenhuber und Positivisten, die die Akkuratesse und Exaktheit der Repräsentation mit einer Interpretation der Vergangenheit verwechseln.

So original das Gedenkstätten-Museum erhalten sein mag, ist es natürlich auch ein kommentiertes Arrangement, das den Eindruck des Authentischen erwecken möchte. Das Originale ist also in gewisser Weise nur in der Differenz zu den späteren Eingriffen und musealen Kommentierungen erkennbar: Das Authentische wird hervorgehoben, bezeichnet und inszeniert, obwohl dies gemeinhin als das Gegenteil des Authentischen gilt. Im Grunde können wir überspitzt festhalten: Mit jedem Interpret, mit jedem Besucher und mit jeder Besucherin entsteht das Authentische und seine Relevanz für die Gegenwart neu. Was aber die Relikte der Vergangenheit und ihre räumliche Anordnung offensichtlich vermögen, ist, dass sie einen gedanklichen Sprung in die Vergangenheit ermöglichen, dass sie Ausgangspunkt unserer historischen Imaginationskraft und Erkenntnisinteresses sind. Authentische Dinge an authentischen Orten setzen uns in ein zeitliches und räumliches Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz, das nicht nur Erinnerung, sondern auch historische Reflexion anregt. Und mit denen wir uns selbst in Beziehung zur Vergangenheit setzen.

Authentische Erinnerungsorte

An Erinnerungsorten und Gedenkstätten kommt dem Konzept des Authentischen eine tragende Bedeutung zu.14 Die Präsenz der Überreste, Relikte und Spuren und damit „die Anmutungsqualität der Gedenkstätte als authentischer Ort“ entscheide zunehmend „über den Grad der affektiven Aufmerksamkeit“, schreibt Heidemarie Uhl.15 Dabei korreliere die seit den 1980er-Jahren zu registrierende „neue Sensibilität für die historischen Orte und ihr Potential als materielle Ankerpunkte für die Geschichte der NS-Verbrechen mit den Zeugnissen der Überlebenden des Holocaust“.16

Dabei ist die Bedeutung von Erinnerungen und Erinnerungsorten auch eine Antwort auf die Krise der Geschichte als großer Erzählung. Geschichte wird heute nicht mehr linear erzählt, sondern oftmals als Nebeneinander paralleler, sich überkreuzender und divergierender Geschichten aufgefasst. An Erinnerungsorten kristallisiert sich im Aufeinandertreffen dieser zahllosen Geschichten Geschichte. Eine besondere Kategorie bilden dabei Gedenkorte, die an vergangenes Leid erinnern. Und an eine Geschichte, die nicht vergessen werden soll. Angewiesen sind sie auf Rituale des Gedenkens und auf Empathie.

Erinnern ist dabei zunächst eine ganz persönliche menschliche Fähigkeit, etwas aus der Vergangenheit wieder zu vergegenwärtigen und zu re-aktualisieren. An Erinnerungsorten werden freilich Geschehnisse erinnert, die auf gemeinsamen Erfahrungen beruhen, so unterschiedlich sie auch wahrgenommen und so unterschiedlich sie auch später artikuliert worden sein mögen. So beruhen diese Orte auf einem gemeinsamen Wissen, so bruchstückhaft es sein mag. Sie bewahren und schaffen Kenntnisse, die geteilt werden können. Dabei hat die Idee des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Identität, so wie sie seit den 1980er Jahren so bestimmend wurde, immer etwas stark Eingemeindendes gehabt.17 Sie verband ganz unterschiedliche Gruppengedächtnisse, etwa von bestimmten Milieus; und sie überschrieb unter der Klausel des „negativen Gedächtnisses“ bisweilen auch unterschiedliche Erfahrungshorizonte von Tätern und Opfern.

Heute haben Erinnerungsorte mit neuen Erfahrungszusammenhängen zu tun. In einer post-migrantischen Gesellschaft wird Wissen erweitert und Geschichte neu ausgehandelt. Thematisch geht es in einer stark europäisch geprägten, aber länderübergreifenden Erinnerungskultur in erster Linie um die Geschichte und die Entstehungsbedingung des Holocaust, um Genozid und koloniale Gewalt, um Weltkriege und Diktaturerfahrungen. Zur breiten Geschichtskultur der Gegenwart gehören darüber hinaus natürlich auch andere Wissensbestände: Baukultur und Denkmäler aller Art, eine vielfältige Museumslandschaft, kulturelles Leben, das kaum vorbei, sogleich historisiert wird, industriekulturelles Erbe, das angesichts des Anthropozäns weniger als Ankerpunkt im Strukturwandel, sondern als Dark Heritage zu gelten hat, und ohnehin: eine unüberschaubare Vielzahl von medialen Repräsentationen von Geschichte. Wie auch immer man das Verhältnis von individueller Erfahrung, Erinnerung und Gedächtnis ausdeuten mag, gemeinsames Erinnern und Erzählen in sich ähnlichen Formen schafft Bedeutung.

Im Übergang von der Spurensicherung zur Dokumentation spielen eine Reihe von Faktoren eine Rolle: Gesellschaftliche Widerstände müssen überwunden werden, verdrängte, verschüttete und ausgeblendete Geschichten werden ans Tageslicht befördert, Forschung wird initiiert, individuelle und je für sich authentische Erinnerungen werden gesammelt. Dabei vergewissert man sich auf vielfache Weise der Authentizität der Dinge. Zunächst geht es um einen Akt der Verifizierung: Sind die Dinge eigentlich das, was sie vorgeben zu sein? Lassen sie sich klar einer Zeit oder einem Entstehungszusammenhang zuweisen? Das sind letztlich Fragen der Quellenkritik und Materialprüfung, die im Leibniz-Forschungsverbund „Historische Authentizität“ als „Authentifizierungspraktiken“ bezeichnet worden sind.18 Man kann sie auch als eine Form der Spurensicherung verstehen: Sammeln und Sichern der Überreste einer Vergangenheit, die gleichsam als Tatort verstanden wird. Dabei wurde in Gedenkstätten nicht nur auf den authentischen Ort und seine materiellen Hinterlassenschaften gesetzt, sondern auch auf originale Dokumente und Fotografien, Filmaufnahmen und Audio- und Videomitschnitte von Zeitzeugen-Interviews: „Ziel war es, die präsentierte Geschichte zu authentifizieren und damit insgesamt die ‚Authentizität der Orte‘ zu dokumentieren.“19

In Deutschland gilt dabei grundsätzlich, so Schaarschmidt und Zündorf, dass in Gedenkstätten bauliche Reste erhalten, restauriert und erklärt, aber nicht rekonstruiert werden. Ein wichtiges Argument gegen die Rekonstruktion in NS-Gedenkstätten war, dass die baulichen Überreste als historische Beweismittel gelten: „Wenn wir diese Beweismittel aber rekonstruieren, indem wir sie nachbilden, fälschen wir potentiell Geschichte, weil wir ein imaginiertes Bild der Vergangenheit präsentieren, das weder mit der historischen Evidenz noch mit der von den Häftlingen erlebten Realität des Lageralltags deckungsgleich ist.“ Mit möglichen Änderungen würde „den Relikten der Beweiswert und die Aura des ‚Authentischen‘ genommen“.20 Gegen diese Erwägungen setzten sich seit den 1990er Jahren einzelne Gedenkstätten zur DDR-Geschichte hinweg. So wurde in der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen eine Wasserzelle nachgebaut und in der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus eine Gemeinschaftszelle inszeniert. Im Fall von Hohenschönhausen wurde gerade die Rekonstruktion der Wasserzelle zu einem Hauptkritikpunkt, da sich deren frühere Existenz im Gefängnis nicht nachweisen ließ und der Nachbau die Glaubwürdigkeit der Gedenkstätte in Frage stellte.21

Es geht aber an authentischen Erinnerungsorten doch noch um mehr als um die Beweiskraft der Überreste: Zunächst einmal hat jeder Ort seine eigene Geschichte, die erzählt werden will und die zum „Gesamtbild“ (bzw. dem, was für uns überschaubar ist) der Vergangenheit beiträgt. Ob weitgehend original erhalten oder vielfach überschrieben, dem authentischen Ort wird eine besondere Kraft der Vergegenwärtigung zugeschrieben. Spurensuchende sichern die Überreste der Vergangenheit, sie sammeln historische Dokumente und Aussagen, um zu klären, was hier geschah. Erinnerende haben eine etwas weniger tatkräftige Beziehung zum Ort, mit dem dann schon recht fest gefügte Geschehnisse und Erfahrungen verbunden sind. Für sie ist die Frage der Authentizität weniger eine der Überprüfung, sondern eine der Bewahrung, der Gedächtnisarbeit und vielleicht auch eine, die sich mehr für die subjektive Seite der Wahrnehmung der Vergangenheit interessiert. Jedenfalls hat das Authentische seinen Siegeszug mit der Individualisierung des Gedächtnisses in der Erinnerungskultur einen Aufschwung gefunden, symbolisch repräsentiert im Zeitzeugen, fachlich in der Oral History. Jede Stimme der Vergangenheit zählt, gerade weil sie für sich steht und als authentische Erfahrung gilt.

Wenn sich aber die Authentizität weniger aus dem Was, sondern aus dem Wie des Erzählten erklärt, dann ändert das auch den Blick auf die Formen der Beglaubigung der Vergangenheit. Bezeichnen kann man das als „Authentisierung“22: Hier handelt es sich um typische Erzählmuster und Narrative, Zeitzeugenberichte, Traditionen, Rituale und Aufführungen, in denen durch bestimmte Motive, Rhetoriken, Topoi und Performanzen der Eindruck historischer Authentizität erzeugt wird. Authentizität ergibt sich hier dann oft durch eine leichte Verschiebung, eine Differenz zu einer ansonsten schon bekannten Form. Aber auch wenn etwas gar nicht so eindeutig bestimmbar ist, aber vielleicht einfach alt oder vielfach gebrochen erscheint, kann sich der Effekt des Authentischen einstellen. Denn Historizität produziert Authentisches, das selbst entdeckt werden will: als Spur und Anwesenheit eines Abwesenden. Oftmals ist es nur ein flüchtiger Augenblick, in dem uns etwas als authentisch erscheint.

Rein konstruktivistisch gedacht, ist Authentizität aber eine bloße Zuschreibung: eine Authentizitäts-Agentur wie etwa das UNESCO-Welterbeprogramm, eine Gedenkstätten-Konzeption, ein Museum oder andere Expert:innen schreiben einem Ort, einem Erinnerungsobjekt Authentizität zu, das heißt Echtheit und Originalität. Die Ausweisung, dass etwas authentisch ist, ist also eine autoritative Deutung, und heute zugleich auch ein Vermarktungslabel. Schon im Mittelalter wurde den Reliquien „authentica“ beigegeben, kleine Beipackzettel, die die Echtheit der Reliquien bestätigten: Das Haar eines Heiligen, das Tuch, das seine Haut berührt hat. Heute beruht die Ausweisung des Authentischen freilich nicht mehr auf Wunderglauben und der Autorität der Kirche, sondern auf fachlicher Expertise. Authentizität ist in dieser Hinsicht das „Kapital von Gedenkstätten“23. Freilich nur, wenn sie in der Konkurrenz der Aufmerksamkeit zu bestehen haben.

Der Vorteil des konstruktivistischen Blicks besteht allerdings alleine gegenüber essentialististischen und ontologisierenden Vorstellungen, die meinen, dass Dinge und Menschen tatsächlich etwas Ursprüngliches, Echtes und Unverstelltes verkörpern. Der konstruktivistische Blick entziffert Mythen, hat aber wenig Interesse daran, wie Menschen vor Ort im Austausch mit Dingen Bedeutung generieren. Der authentische Ort ist in dieser Sicht selbst ein Mythos, und die authentische Erinnerung eine Fiktion. Betont wird dann, dass sich in jeder Erinnerung nachträglich gemachte Erfahrungen und Interpretationen überlagern.

Der Eindruck des Authentischen entsteht im Wesentlichen durch die mediale Präsentation. Menschen setzen sich in Beziehung zur Vergangenheit, und sie tun das an Orten des Geschehens, in der Auseinandersetzung mit Dingen von Bedeutung, und in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Sara Jones spricht im Hinblick auf die Vermittlung von Geschichte in Gedenkstätten von „complementary authenticities“, die sich heute gegenseitig ergänzen: Der Ort an sich, Objekte, die mit ihm verbunden werden, Zeitzeugenaussagen, unterschiedliche, aufeinander verweisende Medien. Aber auch der eigene Körper und die eigenen Sinne werden zum Medium der Vergangenheitsvergegenwärtigung eingesetzt, denn wir müssen uns in eine Beziehung zu den Dingen im Raum setzen, um Bedeutungen zu erschließen.24Insofern ist die Vergangenheitsaneignung auch eine sehr persönliche Sache. Letztlich eine authentische Erfahrung, die ich für mich mache und die ich mit anderen teilen kann.

1ZZF

2 Siehe u.a. Martin Sabrow/Achim Saupe (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, Göttingen 2022. Der Beitrag erweitert frühere Überlegungen, die u.a. in folgenden Artikeln entwickelt wurden: Achim Saupe, "War es wirklich so?" Zur Authentizität von Quellen, in: Thorsten Logge/Eva Schöck-Quinteros/Nils Steffen (Hrsg.), Geschichte im Rampenlicht. Inszenierungen historischer Quellen im Theater, Berlin 2021, S. 119-144; ders., Historische Authentizität: Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst – ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 15.08.2017, ders., Authentizität, Version 3.0; in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2015.

3 Ich folge hier auch einer Station eines Audiowalks für Leipzig zum Thema Authentizität, der im Rahmen des Leibniz-Forschungsverbundes Historische Authentizität (seit 2021 Leibniz-Forschungsverbund „Wert der Vergangenheit“) entstanden ist: Sabine Stach u.a., Echt, echter, am echtesten? Ein Leipziger Hörspaziergang zum Thema Authentizität, Leipzig 2022.

4 Website des Bürgerkomitees Leipzig e.V. für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (MfS); Träger der Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke" mit dem Museum im Stasi-Bunker: https://www.runde-ecke-leipzig.de/index.php?id=832&L=1 [2.1.2023].

5 „Unterrichtung durch die Bundesregierung: Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes und Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland“, Deutscher Bundestag, Drucksache 14/1569, 14. Wahlperiode, 27.7.1999, online abrufbar unter www.bundesregierung.de/Content/DE/Archiv16/Artikel/2005/11/_Anlagen/gedenkstaettenkonzeption.pdf [2.1.2023]; „Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien: Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen“, Deutscher Bundestag, Drucksache 16/9875, 16. Wahlperiode, 19.6.2008, online abrufbar unter www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/BKM/2008-06-18-fortschreibung-gedenkstaettenkonzepion-barrierefrei.pdf [2.1.2023].

6 Achim Saupe, Authentizitätskonflikte in Gedenkstätten. Umstrittener Begriff, Zuschreibung und Erfahrungsdimension, in: Axel Drecoll/Thomas Schaarschmidt/Irmgard Zündorf (Hg.), Authentizität als Kapital historischer Orte. Die Sehnsucht nach dem unmittelbaren Erleben von Geschichte, Göttingen 2019, S. 189-207; sowie Detlef Garbe, Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes: Förderinstrument im geschichtspolitischen Spannungsfeld, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 182 / 2016, S. 3-17, www.gedenkstaettenforum.de/aktivitaeten/gedenkstaettenrundbrief/detail/die-gedenkstaettenkonzeption-des-bundes-foerderinstrument-im-geschichtspolitischen-spannungsfeld [2.1.2023].

7 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 224; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 298; Karl Markus Michel, Die Magie des Ortes. Über den Wunsch nach authentischen Gedenkstätten und die Liebe zu Ruinen, in: ZEIT, 11.9.1987, http://www.zeit.de/1987/38/die-magie-des-ortes/komplettansicht [2.1.2023].

8 Volkhard Knigge, Gedenkstätten und Museen, in: ders./Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2002, S. 378-389; ders., Vom Zeugniswert der authentischen Substanz für die Gedenkstättenarbeit, in: Axel Klausmeier/Günter Schlusche (Hg.), Denkmalpflege für die Berliner Mauer. Die Konservierung eines unbequemen Bauwerks, Berlin 2011, S. 65-71; Hauke Petersen, Gedenkstätten und Authentizität. Über den Umgang mit der KZ-Architektur, in: Katja Köhr/ders./Karl Heinrich Pohl (Hg.), Gedenkstätten und Erinnerungskulturen in Schleswig-Holstein. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2011, S. 115-128.

9 Website des Bürgerkomitees Leipzig e.V., hier https://www.runde-ecke-leipzig.de/index.php?id=223&L=2%23c1256 [2.1.2023].

10 Gottfried Korff/Michael Roth, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main 1990, S. 9-37.

11 Zum Paradigma der historischen Spurensicherung siehe u.a. Carlo Ginzburg, Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983; Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Projekt Spurensicherung. Alltag und Widerstand im Berlin der 30er Jahre, Berlin 1983; Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg.), Die andere Geschichte. Geschichte von unten, Spurensicherung, Ökologische Geschichte, Geschichtswerkstätten, Köln 1986, S. 108–116.

12 Diese Fragen stellt auch der oben genannte Audiowalk, Sabine Stach u.a., Echt, echter, am echtesten?.

13 Heidrun Kämper, Authentisch – Gebrauchsaspekte eines Leitworts, in: Heidrun Kämper / Christopher Voigt-Goy (Hg.), Konzepte des Authentischen, Göttingen 2018, 13-28, hier S. 25-27.

14 Detlef Hoffmann, Authentische Erinnerungsorte. Oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis, in: Hans-Rudolf Meier, Marion Wohlleben (Hrsg.), Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, Zürich 2000, S. 31-46.

15 Heidemarie Uhl, Orte und Lebenszeugnisse. „Authentizität“ als Schlüsselkonzept in der Vermittlung der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, in: Michael Rössner, Heidemarie Uhl, Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012, S. 257-284, hier S. 263.

16 Ebd.

17 Zu denken ist etwa an: Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999; Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006; dies, Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, München 2020.

18 Martin Sabrow/Achim Saupe, Einleitung, in: dies. (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, S. 9-15, hier S. 11.

19 Thomas Schaarschmidt/Irmgard Zündorf, Gedenkstätten, in: Sabrow/Saupe (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, S. 170-178, hier S. 173.

20 Jens-Christian Wagner, Simulierte Authentizität? Chancen und Risiken von Augmented und Virtual Reality an Gedenkstätten, in: Gedenkstättenrundbrief 196 (2019), S. 3-9.

21 Vgl. Schaarschmidt/Zündorf, Gedenkstätten, in: Sabrow/Saupe (Hg.), Handbuch Historische Authentizität, S. 170-178.

22 Sabrow/Saupe, Einleitung, S. 11f.

23 Axel Drecoll/Thomas Schaarschmidt/Irmgard Zündorf (Hg.), Authentizität als Kapital historischer Orte. Die Sehnsucht nach dem unmittelbaren Erleben von Geschichte, Göttingen 2019.

24 Sara Jones, Mediated Immediacy: Constructing Authentic Testimony in Audio-Visual Media, in: Rethinking History 21 (2017), S. 135-153; dies., The Media of Testimony. Remembering the East German Stasi in the Berlin Republic, Houndmills 2014.