Begegnungen am Symbol der Teilung

Historisch-politische Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn

Von Felix Ludwig[i]

Authentizität ist Erwartungshaltung und Mythos zugleich. Die Gäste einer Gedenkstätte gehen zumeist davon aus, dass der Ort seine Bedeutung (sozusagen seine „Aura“) über erhaltene Gebäude und Gegenstände entfaltet und sie dadurch eine authentische Erfahrung der Vergangenheit erhalten. Insbesondere Lehrkräfte organisieren noch immer Ausflüge an Erinnerungsorte der deutschen Diktaturgeschichte in der Annahme, dass allein diese Wirkung ausreicht, um ihre Schüler:innen gegen antidemokratische Versuchungen zu immunisieren.

Historisch-politische Bildung kann so kaum funktionieren. Natürlich rufen die baulichen Überreste historischer Orte bei Gästen Gefühle hervor: Wachtürme und Stacheldraht von Gedenkstätten der ehemaligen innerdeutschen Grenze wirken zweifellos einschüchternd. In Kombination mit den Vorwissen von Besucher:innen kann dies auch erschlagend wirken. Doch sollte in der Bildungsarbeit weder bei den Bildner:innen noch bei den Gästen die Illusion herrschen, dass dies einen authentischen Eindruck vom (Er)leben historischer Personen ist. Geschichte ­– so die Binsenweisheit vonHistoriker:innenund Gedenkstättenpädagog:innen– ist immer eine nachträgliche Konstruktion und dies gilt auch für historische Orte.

Wenn Authentizität ein Mythos ist, worin liegt dann der besondere Wert des historischen Ortes?Letztlich ist es die Haptik, die Gedenkstättenpädagogik vor Ort legitimiert: Zwischen gut erhaltenen Gebäuden werden aus abstrakten Narrativen konkrete Erzählungen, mit denen sich Gäste identifizieren können und die sie zum Reflektieren über Diktatur und Demokratie anregen.

Von der innerdeutschen Grenzübergangsstelle zur Gedenkstätte

Die Gedenkstätte Deutsche Teilung in ihren heutigen Ausmaßen. Foto: Anja Schmidt i.A.

Einordnung und Reflexion von Vergangenheit und Gegenwart sind nicht nur wesentliche Ziele beinahe aller bundesdeutschen Geschichtscurricula, sondern auch der Bildungsarbeit der Gedenkstätte Deutsche Teilung (GDT) Marienborn. Die ehemals größte innerdeutsche Grenzübergangsstelle (GüSt) an der kürzesten Transitstrecke zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin wurde in ihrer heute erhaltenen Form zwischen 1972 und 1974 errichtet.Sie veranschaulicht in ihren Ausmaßen wie kaum ein anderer Ort, mit welchem Aufwand das DDR-Regime versuchte, seine Bürger:innen an der Flucht zu hindern. Diese Bedeutung war den zuständigen Akteur:innen bereits rasch nach dem offiziellen Ende der Grenzkontrollen im Juli 1990 klar: Noch nach DDR-Denkmalrecht stellten die Behörden das gesamte Gelände unter Denkmalschutz und sicherten so, dass die GüSt Marienborn als letzter DDR-Grenzübergang erhalten blieb. Das verließ keineswegs reibungslos: Insbesondere zu Beginn der 90er Jahre häuften sich die Konflikte zwischen der zuständigen unteren Denkmalschutzbehörde des damaligen Bördekreises und der Deutschen Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH. Letztgenannter gelang es gemeinsam mit der Tank und Rast GmbH den Ausbau der A2 zwischen Helmstedt und Magdeburg und damit zugleich den Abriss des ehemaligen Ausreisebereiches der GüSt durchzusetzen. Dem bundesdeutschen Autoverkehr fielen so mehr als die Hälfte der ehemaligen Anlagen zum Opfer; lediglich die eindrücklichen Flutlichtmasten konnten noch gerettet werden. Auch brauchte es nach einem entsprechenden Beschluss des Landtages 1993 noch drei Jahre, bevor die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn ihre Pforten öffnen konnte.

Stand gleichwohl der Wert der ehemaligen Grenzübergangsstelle nie außer Frage, so war der Erhalt der Grenzanlagen in der Ortschaft Hötensleben (circa 20 Autominuten südlich der Gedenkstätte) zunächst sehr umstritten: Als sich bürgerschaftliche Akteur:innenin dem Dorf 1990 dafür einsetzten, Sichtbelendmauern, Türme und Stacheldraht zu erhalten, schlug ihnen von Nachbar:innen Widerstand entgegen. Das ist durchaus verständlich, immerhin hatten sie über Jahrzehnte hinweg auf die martialischen Anlagen zur Grenzsicherung geblickt. Gleichwohl gelang es dem sich 1993 offiziell gegründeten Grenzdenkmalverein Hötensleben, knapp 300 Meter der innerdeutschen Grenze zu erhalten. Ein Teil des Denkmals ging 2004 in den Besitz der Gedenkstätte über; heute wird die gesamte Anlage mit Unterstützung des Vereins pädagogisch durch die Gedenkstätte betreut.

Bildungsarbeit am historischen Ort

Damit stehen der Gedenkstätte zwei ausgedehnte historische Gelände zur Verfügung. Diese Außenflächen verdeutlichen anschaulich den Anspruch des DDR-Grenzregime einer möglichst lückenlosen Kontrolle und stehen entsprechend im Vordergrund der Bildungsarbeit. Methodisch orientiert diese sich am Beutelsbacher Konsens; insbesondere das Überwältigungsverbot setzt der praktischen Bildung sinnvolle Grenzen: Eine emotionale Überwältigung der Gäste wird weder angestrebt noch verlangt. Manchen Lehrkräften muss man dies durchaus erklären. Oftmals wird an die Mitarbeitenden der GDT beispielsweise die Idee (oder die Forderung) herangetragen, die Grenzkontrollen nachzuspielen: So sollen sie doch in Uniform der Grenztruppen in den Schulbus steigen und die Papiere der Schüler:innen kontrollieren. Ähnliche Geschichten können auch andere Gedenkstätten immer wieder berichten und werden ebenso wie dort auch in der GDT abgeblockt. Zum einem birgt eine solche Vorgehensweise (gerade in einer immer migrantischer geprägten Gesellschaft) die Gefahr einer unnötigen Emotionalisierung, zum anderen ist in der Pädagogik inzwischen allzu bekannt, dass solche Vorgehensweise kaum eine nachhaltige Wirkung erzielen.Das ist natürlich keinesfalls mit einer wertneutralen Darstellung zu verwechseln. Historisch-politische Bildung im Kontext der DDR-Diktatur bedeutet notwendigerweise, sich für die pluralistische Demokratie zu engagieren.

Dies kann erfahrungsgemäß kaum über Vorträge von oben herab erreicht werden. Stattdessen müssen die Lernenden eigenständig tätig werden. Dem trägt die Bildungsarbeit in der GDT Marienborn insbesondere mit zwei Workshop-Konzepten Rechnung, die für Schüler:innen entwickelt worden und die je nach Gruppe und Wünschen der Schulen eingesetzt werden: Beim selbständigen Erkunden des Geländeswerden die Teilnehmenden mit Aufgaben und Quellen auf das Außengelände geschickt. Dadurch wird die Gruppe nicht nur aktiviert, sie erschließt sich die Konstruktion und die Abläufe der ehemaligen Grenzübergangsstelle eigenständig. Im Workshop zu Grenzschließung und Zwangsaussiedlungen wiederum müssen sich die Jugendlichen die Themen anhand von Materialien erschließen und darauf aufbauend eigene Texte – beispielsweise einen Brief oder einen Tagebucheintrag – verfassen.Bei beiden Formaten wurde bei der Auswahl der Begleitmaterialien darauf geachtet, dass sie einerseits die grundlegenden Informationen zum Grenzregime der DDR vertiefen, andererseits anschauliche Bilder geben. Dafür werden insbesondere Transkripte von Interviews mit Zeitzeug:innen eingesetzt. Durch sie werden die Jugendlichen angeregt, sich auf einer persönlichen Ebene mit den historischen Akteur:innen zu beschäftigen, wodurch aus abstrakter Geschichte konkrete Erzählung wird.

Neben den Projekttagen für Schulklassen läuft in der GDT Marienborn aktuell noch ein besonderes Projekt: Bei „Motion Comics als Erinnerungsarbeit“ entstehen seit 2021 und bis 2023 insgesamt vier Motion Comics (Mocoms). Dabei handelt es sich um Mischformen zwischen Comic und Zeichentrickfilm: Die animierten und vertonten Bilder schließen an moderne Sehgewohnheiten an und werden zunehmend auch in der bundesdeutschen Bildungsarbeit eingesetzt. Die den Mocoms zugrundeliegenden Geschichten sammeln die Jugendlichen selbst; ebenso verfassen sie die Skripte. Lediglich das Zeichnen wird durch professionelle Künstler:innen übernommen. Die daraus entstehenden Werke sind mitsamt umfangreichen pädagogischen Begleitmaterial kostenfrei herunterladbar.[1] Dadurch können auch andere Gedenkstätten und Schulen die MoComs in ihrer eigenen Bildungsarbeit einsetzen, wodurch die Reichweite des Projektes erheblich gesteigert wird.

Die Motion Comics erheben dabei bewusst nicht den Anspruch auf authentische Darstellungen. Vielmehr sehen sie sich als erzählte Erinnerungen, die damit notwendigerweise auch Konstruktionen sind. Dies wird auch im gesamten Kontext der Bildungsarbeit deutlich: Alle Formate, die in der GDT Marienborn eingesetzt oder künftig entwickeln werden, überwältigen nicht mit dem (imaginierten) Anspruch zu zeigen „wie es gewesen ist“, sondern berichten nüchtern und doch anschaulich, neutral und doch demokratiefördernd, die Geschichte(n) eines einstmals geteilten Landes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


[1]Mehr zu dem Projekt „Motion Comics als Erinnerungsarbeit“: https://mocom-memories.de/. Das Projekt wird geleitet durch Lisa Hölscher und wissenschaftliche betreut durch Anja Werner uns Sarah Fichtner. Die Finanzierung erfolgt durch die Förderlinie „Jugend erinnert“ der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.

 


[i] Felix Ludwig wurde 1990 in Thüringen geboren und studierte in Leipzig Mittlere und Neuere Geschichte. Nach Abschluss seiner Promotion an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist er seit 2021 in der Gedenkstätte Deutsche Teilung tätig. Seit Oktober 2022 leitet er die Gedenkstätte in Vertretung von Dr. Susan Frisch.