Überlagerte Geschichte

Von Andreas Ludwig1

Mehr als dreißig Jahre sind inzwischen nach dem Ende der DDR vergangen und anstelle des deutschen Teilstaats bildet heute eine Vielzahl von Gedenkstätten, Museen, Filmen und Literatur, privaten Memorabilien und Streamingfunden eine Erinnerungslandschaft, die zusammen eine Vorstellung von Partei und Staat, Land und Leuten ergeben und die jede für sich den Anspruch auf Authentizität erhebt.

Doch wie seht es mit dieser Authentizität, dem Echtheitsversprechen der Überreste aus, wie verhalten sie sich zu den beigefügten Erläuterungen und wie entwickeln sie sich, jeder einzeln für sich und alle zusammen, zu einem lieu de mémoire, der, so der Anspruch, zeigen soll, „wie es gewesen ist“ und zugleich beansprucht zu manifestieren, wie wir uns erinnern sollen.

Skepsis ist angesagt, nicht, weil es hier um die DDR geht, sondern weil sich aus dem zeitgenössischen Erleben eine nachträgliche Konstruktion entwickelt hat, die sich aus dem Aushandeln des Erinnerungswürdigen, der historischen Analyse, der zeitlichen Distanz mit ihrer generationellen Abfolge, schlichtweg also durch Interpretation verfestigt und überlagert. Sind diese nachträglichen Konstruktionen authentisch und wenn, für was? Dem will ich im Folgenden an einigen Beispielen nachgehen, zuvor jedoch einige Vorüberlegungen.

Erstens: Authentizität ist überall und immer erweist sie sich als Konstrukt, wie man am Handbuch Historische Authentizität anhand von 69 Einträgen nachvollziehen kann.2 Allerdings bedarf sie immer eines realen Kerns, der Alter und Echtheit beglaubigt, hinzu kommt Imagination und nicht zuletzt eine Situation des Erlebens. Beim Authentischen finden wir also eine doppelte Zeit vor, ein Zusammenspiel von historischer Zeit und aktueller. Der Archäologe Cornelius Holtorf hat dafür den Begriff der pastness geprägt, ein Erkennen von Geschichtlichkeit, das sich aus einer aktuellen Perspektive entwickelt. Nach Holtorf sind dabei drei Kriterien maßgebend: das Vorhandensein materieller Spuren, eine Anbindung an die Erwartungen der Betrachtenden und eine plausible Erzählung, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet.3 Was Holtorf anhand archäologischer Orte entwickelt, lässt sich aus heutiger Sicht umstandslos auch auch Orte der DDR anwenden, wobei nicht immer alle drei Kriterien von pastness gleichermaßen zutreffen. Ob man verlassene Orte aufsucht und damit Teil einer nach Spuren suchenden (und sie genießenden) Urbex-Community (Abk. von Urban Exploration) ist, die Bauten der sogenannten Ostmoderne identifiziert4 oder eine Gedenkstätte besucht, die materielle Spur und die Bindung an eine konkrete Örtlichkeit sind das verbindende Element, so unterschiedlich deutlich sind die sie vermittelnden plausiblen Erzählungen, die zwischen der Vemutung von Bedeutung und strikter Interpretation changieren, wie dies bei Gedenkstätten der Fall ist.5

Zweitens: Diese Authentizität vermittelt sich durch Öffentlichkeit, sie bedarf eines Publikums, das Orte als authentisch identifiziert und akzeptiert. Interessant wird diese einfache Feststellung durch die Tatsache, dass sich das Publikum über die Zeit hinweg verändert. In den mehr als dreißig Jahren, die seit dem Ende der DDR vergangen sind, erleben wir zunehmend eine Verschiebung von der „Generation der Mitlebenden“6 zu einer der Nachgeborenen, von einer Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft, die den authentischen Ort vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung spiegelt und ihn so zum Erinnerungsort7 werden lässt, zu einem Publikum, was dem am authentischen Ort gebotenen Thema uninformiert oder mit anderen Fragen gegenübertritt. Die Auseinandersetzungen zwischen Opfergruppen und wissenschaftlich ausgebildeten Gedenkstättenmitarbeiter*innen sind dafür nur ein Beispiel. Allgemeiner formuliert haben wir es mit einem Übergang von den milieux des mémoire zu den lieux de mémoire, so die Begriffe von Pierre Nora, also der Veränderung von der Erinnerungsgemeinschaft zum nachträglichen Erinnerungsort oder Gedächtnisort zu tun.8 Ein vielleicht banales, aber erhellendes Beispiel sind die braun getönten tourististen Hinweisschilder an der Autobahn, die auf die „Deutsche Teilung 1945-1990“ hinweisen und somit Orte markieren, an denen sich bis 1990 Grenzübergangsstellen befanden. Während sich Ältere an Transitreisen durch die DDR erinnern und diese Erfahrungen immer wieder kommunikativ aktualisieren, erkennen Jüngere dort lediglich einen Gewerbepark, ein Hotel oder, wie in Marienborn, eine Gedenkstätte. Bis auf Marienborn kann keiner dieser Orte noch als authentisch gelten, es sei denn, es gelingt, ihn als Palimpsest zu lesen, als Überschreibung eines früheren Zustands und mithin einer historischen Quelle.

Drittens: die Akteure. Die generationellen Verschiebungen werden durch einen Wandel der beteiligten Akteure ergänzt, deren Einfluss unterschiedliche Formen der Bildung und Wahrnehmung von Orten der DDR-Geschichte bestimmt. Hier kam es über den Lauf der Zeit zu einem Übergang vom kollektiven Gedächtnis, so der Begriff des Soziologen Maurice Halbwachs,9 zu einem institutionalisierten, sogenannten kulturellen Gedächtnis.10 Oder einfacher, von der anschauungs- und erfahrungsgesättigten Erinnerung zu Orten professionalisierter Auseinandersetzung mit Geschichte. Das kollektive Gedächtnis äußerte sich dabei ebenso in den Erfahrungen der von Haft und Verfolgung Betroffenen, wie der der Aktiven während der Friedlichen Revolution von 1989, aber auch in Form nostalgischer Rückerinnerung an frühere Lebensverhältnisse, die oft an Objekte des täglichen Gebrauchs gebunden waren und die gleichsam nebenbei als kommunikative Form der kritischen Begleitung der Transformationszeit in Ostdeutschland in den 1990er Jahren fungierten, oder, wie Michael Rutschky einmal in einem pointierten Essay festgestellt hat, die DDR sei eigentlich erst nach ihrem Ende entstanden.11 Reste der damals als „Ostalgie“12 bezeichneten popularen Kommentierung finden sich auch später noch in den Aktivitäten der 3. Generation Ost oder in einer andauernden Behauptung einer kulturellen Besondernheit Ostdeutscher, bis hin zu den aktuellen Statements des sächsischen Ministerpräsidenten hinsichtlich der Beziehungen zu Rußland während des Ukrainekriegs.

Wie auch immer man die entsprechenden Äußerungen beurteilt und deren Formen als etwas Spezifisch Ostdeutsches interpretieren mag, sie sind zum einen kein einheitliches sondern ein höchst differenziertes und kontroverses Feld von Meinungsäußerungen und Erinnerungsausschnitten, zum anderen nur die eine Seite der Auseinandersetzung mit der DDR. Die andere wird durch politische Prozesse und wissenschaftliche Analyse bestimmt, was gerade für eine institutionalisierte Form der Erinnerung wesentlich ist. So entstanden beispielsweise Gedenkstätten „aus wilder Wurzel“, das heißt auf Initiative von Betroffenen, etablierten sich nachfolgend und zum Teil auf Dauer durch finanzielle Unterstützung durch die Öffentliche Hand. Das Stasi-Unterlagengesetz von 1991, mit dem die Stasiakten gesichert wurden und das auf Druck der Bürgerbewegung entstand, ist quasi die Blaupause für dieses Prozdere.

Zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags13 haben durch Themenfindung und Expert*innenauswahl und schließlich durch den Beschluss zur Gründung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur den Rahmen staatlicher Veranwortung für die kontinuierliche „Aufarbeitung“ der SED-Diktatur geschaffen.14 Und schließlich wurde durch die Überarbeitung und zuvor kontrovers geführte Debatte über die Gedenkstättenkonszeption des Bundes die dauerhafte finanzielle Sicherung von Gedenkstätten als Kern der historischen Erinnerungskultur etabliert.15 Mit diesen Entscheidungen der 1990er und 2000er Jahre wird der Einfluss politischer Entscheidungen auf die öffentliche Repräsentation der DDR-Geschichte manifest. In dieser Konstruktion und Etablierung einer Geschichts- und Gedenklandschaft kommt die während ihrer Entstehungsphase im politischen Raum dominante Interpretation der DDR als Diktatur zum Tragen, obwohl unterschiedliche Varianten des Diktaturbegriffs vorgeschlagen wurden, je nachdem, wo der gesellschaftsprägende Schwerpunkt der Diktatur in der DDR gesehen wurde. Sahen die einen ihren Kern in der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, betonten andere den Charakter der DDR als sozialstaatliche Modernisierungsdiktatur. So wurde von SED-Diktatur, Erziehungsdiktatur, Konsensdiktatur oder Fürsorgediktatur gesprochen, die DDR für sich selbst oder als Teil einer deutsch-deutschen Geschichte interpretiert, in den globalen Zusammenhang des Kalten Krieges oder einer europäischen Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt. Auffallend ist, dass geschichtswissenschaftliche Analysen zur Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der DDR nur selten Eingang in die Konzeptionen von Gedenkstätten und Museen fanden.16

Mithin wird deutlich, dass die Orte, an denen DDR-Geschichte verhandelt wird, weniger „authentisch“ als vielmehr geschichts- und erinnerungskulturelle Konstruktionen und Manifestationen der Geschichtsinterpretationen ihrer Zeit sind. Die damit verbundenen Probleme der Transition der Zeit möchte ich abschließend ich an zwei peripheren, aber dennoch markanten Beispielen verdeutlichen.

Der im Sommer 1990 gedrehte Dokumentarfilm „Berlin-Friedrichstraße, 1990“17 zeigt die Veränderungen dieser Drehscheibe im wiedervereinigten Berlin als Transitzone zwischen Ost und West, zwischen seiner Vergangenheit als DDR-Grenzbahnhof und seiner Gegenwart als zentraler Umsteigbahnhof. Der Film zeigt, wie das aufwändig errichtete Kanalisierungs- und Kontrollsystem der Grenze zur Bedeutungslosigkeit zerfällt, auch weil die Passanten, die die Szenerie kreuzen, sich so verhalten, als sei es nie anders gewesen. An Schluss fegt ein Beschäftigter den Staub, der durch die Ritzen der Kontrollkabinen gefallen ist, auf. Das war´s mit der DDR.

Das Gegenteil sehen wir im Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum, wo der Schreibtisch Wilhelms Piecks ausgestellt wird und dort als symbolischer Ort von Herrschaft fungiert, indem er isoliert, auf einem Podest erhöht und vor einem übergroßen Wappenschild der DDR arrangiert ist.18 Der Schreibtisch ist echt, er stammt aus der Parteizentrale der SED, wo er zuerst im Dientszimmer Piecks als Ko-Vorsitzender der SED genutzt wurde und später Teil einer Erinnerungsstätte für Pieck war. Dort war der Schreibtisch nicht nur historisch gegenteilig konnotiert, sondern auch Teil eines funktionalen und später nur spärlich kommentierten Arrangements, das das Dienstzimmer Piecks als authentischen Ort präsentierte. Was wir aktuell sehen, ist eine De- und Rekontextualisierung im Dienste einer historisch-politischen Narration, was wir nicht erfahren ist die Nutzungsgeschichte, die historischen Nutzungsschichten des Tischs.

Die beiden aufgeführten Beispiele, und nicht nur sie, werfen die Frage auf, was eigentlich an den Orten, an denen DDR-Geschichte verhandelt wird, authentisch ist und was (Re-)Konstruktion. Ist der Ort und die Verwendung „historischer Sachzeugen“, so eine in der DDR gebräuchliche Bezeichung für originale Objekte, eine Beglaubigung der Erzählung, die dargeboten wird? Oder sollte nicht die eigene Historizität der Orte, ihrer Ausstattungen in Form von Ausstellungen ebenso zum Thema gemacht werden? Geschichtsbilder, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und aus nachvollziehbaren Gründen erarbeitet worden sind, müssen lesbar sein, damit sie sich nicht als reine Erinnerungsorte einer geschichtsbewußten Generation überholen.

1Andreas Ludwig studierte Geschichte und Germanistik an der FU Berlin und promovierte an der TU Berlin. Er war 1981 bis 1991 in der Berliner Geschichtswerkstatt aktiv, 1993 bis 2012 konzipierte und leitete er das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. Ab 201 war er bis zu seinem Ruhestand Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Ludwig ist Mitherausgeber der Zeitschrift WerkstattGeschichte.

2Martin Sabrow, Achim Saupe (Hg.): Handbuch Historische Authentizität, Göttingen 2022.

3Cornelius Holtdorf: On Pastness: A Reconsideration of Materiality in Archaeological Object Authenticity, in: Anthropolgical Quarterly 86 (2013), H.2, S. 427-443.

4Vgl. u.a. Jonathan Bach: Die Suren der DDR. Von Ostprodukten bis zu den Resten der Berliner Mauer, Ditzingen 2019 (engl. 2017); Nicolas Offenstadt: Urbex RDA. L´Allemagne de l´Est par ses lieux abandonnés, Paris 2019; Andreas Butter, Ulrich Hartung (Hg.): Ostmoderne, Berlin, 2. verb. und überarb Aufl., 2005. Zum Begriff der (Nachkrieg-) Moderne in Verbindung mit der DDR vgl. Katherine Pence, Paul Betts (Hg.): Socialist Modern. East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008.

5Annette Kaminsky (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Leipzig 2004, zählt 356 solcher Orte in Deutschland. Eine aktuelle Übersicht der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hebt 38 Gedenkstätten, 39 Grenzmuseen- und erinnerungsorte sowie 14 Museen per link hervor, vgl. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/erinnern/museen-und-gedenkstaetten/linkliste (Zugriff: 5.11.2022).

6So eine vielzitierte Definition von Zeitgeschichte bei Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), H.1, S. 1–8.

7Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009. Der Begiff stammt von dem französischen Historiker Pierre Nora und wurde durch Etienne François und Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001, auf Deutschland angewandt.

8Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte, in: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11-33.

9Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985 (frz. 1925).

10Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

11Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen, in: Merkur 49 (1995), H. 9/10, S. 851–864.

12Thomas Ahbe: Ostalgie als Laienpraxis. Einordnungen, Bedingungen, Funktionalität, in: Berliner Debatte INITIAL, 1999, H.3, S. 87–97.

13Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", 18 Bde., Baden-Baden 1995; Ders. (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", 14 Bde., Baden-Baden 1999.

14Gesetz über die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, vom 5. Juni 1998, BGBl I, S. 1226.

15Deutscher Bundestag, Drs., 16/9875, Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, vom 19.6.2008. Zur Kontroverse vgl. Martin Sabrow (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007.

16So wurde die erste Dauerausstellung des Eisenhüttenstädter Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR „Fortschritt, Norm und Eigensinn“ getitelt und damit eine gesellschaftsgeschichtliche Umschreibung der DDR vorgeschlagen.

17Berlin-Friedrichstraße, 1990, Regie: Lilly Grote u.a., 85 Min.

18Vgl. Andreas Ludwig: Schreibtisch, erscheint in: WerkstattGeschichte 87, 2023.