Es gibt nur Verlierer

Zur  Rolle der USA

von Stefan Schaaf[1]

Dass die Nato sich unter Führung der USA stabilisiert hat, ist eine Sache. Doch der russische Angriffskrieg in der Ukraine zerstört ein Land und die über Jahrzehnte erarbeiteten Regeln der internationalen Beziehungen. Die wirtschaftlichen Folgen sind global zu spüren.
Kann die US-Regierung unter Joe Biden politischen Gewinn aus dem Ukraine-Krieg ziehen? Biden hätte es nötig, denn seine Amtsführung wird aktuell nur von 43 Prozent der US-Bürger gutgeheißen, aber von 53 Prozent abgelehnt. Die USA haben bei der Verteidigung der Ukraine eine Führungsrolle eingenommen und die EU und Nato auf das gemeinsame Ziel eingeschworen. Die Biden-Regierung hat den Bestand einer unabhängigen und demokratisch regierten Ukraine zu ihrem wichtigsten außenpolitischen Ziel gemacht und dem Land seit dem russischen Angriff im Februar Militärhilfe in Höhe von mehr als 9 Mrd. Dollar geleistet und weitere 20 Mrd. Dollar an humanitären und Finanzhilfen zugesagt. Die USA allein haben damit die Hälfte der bisherigen ausländischen Waffenlieferungen geleistet. Eine Grenze zieht Washington jedoch an dem Punkt, an dem die USA als direkte Kriegspartei erscheinen würden − was allerdings schwierig zu definieren ist und letztlich von Wladimir Putins willkürlicher Beurteilung abhängt. Eines ist klar: Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf einen souveränen Staat ist ein Regelbruch gewaltigen Ausmaßes, er wirft die internationale Kooperation und jegliche Bestrebungen um zivile Konfliktbewältigung und Vertrauensbildung um Jahrzehnte zurück. Er zwingt die westlichen Staaten zu einem strategischen Umdenken, zu gewaltigen Ausgaben und einer schmerzhaften Anpassung ihrer Volkswirtschaften.

Kalter Krieg reloaded

Erstaunlich mutet dabei an, dass der Beistand für die Ukraine in den USA über die Parteigrenzen unumstritten ist. Und das in der Post-Trump-Ära, in der ansonsten derzeit über jedes Thema erbittert gestritten wird und in der der Ex-Präsident, der nach wie vor eine hohe Meinung von Wladimir Putin hat, die Republikanische Partei weiter fest im Griff hat. Auch in der Öffentlichkeit der USA fanden die Hilfen breite Unterstützung. Im Juni sagten bei einer Umfrage der Brookings Institution 62 Prozent, sie seien bereit, höhere Energiepreise zu zahlen, 58 Prozent wollten auch eine höhere Inflation akzeptieren. Einen US-Truppeneinsatz mit getöteten Soldaten waren aber nur 32 Prozent bereit hinzunehmen. Im April waren obendrein 78 Prozent der US-Bürger einverstanden, bis zu 100.000 ukrainische Geflüchtete in den USA aufzunehmen.

Sicher spielt dabei eine Rolle, dass Russland dabei der Aggressor ist - ein Land, das ohnehin jahrzehntelang als größter Gegner der USA gesehen wurde. Biden selbst beschreibt den Konflikt als vergleichbar mit dem Kalten Krieg. Damals, in der Ära Ronald Reagans, standen sich in den Augen der US-Regierung kommunistische Diktatur und freiheitliche Demokratie gegenüber, heute seien es Autoritarismus und Demokratie, sagte Biden Ende März bei seinem Besuch in Warschau. Man könne auch sagen, ergänzte er, die Auseinandersetzung verlaufe „zwischen Freiheit und Repression, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die sich auf rohe Gewalt stützt“.

Falls Putin sich darauf verlassen hat, dass Biden nach dem desaströsen Abzug aus Afghanistan außenpolitisch zu geschwächt sei, um hart auf die Invasion reagieren zu können, war das eine Fehlkalkulation: Die USA und ihre westlichen Partner sind bereit, der Ukraine weiter zu helfen, bis Russland nachgibt, auch wenn westliche Militärexperten derzeit bemängeln, dass der Waffennachschub nicht mit dem Kriegsmaterial erfolge, das nötig wäre. Aktuell gibt es keine Verhandlungsperspektive und keine diplomatischen Initiativen im UN-Sicherheitsrat, der bekanntlich durch das russische Vetorecht blockiert ist. Erst wenn neben der Zahl der Opfer bei den russischen Streitkräften und deren sinkender Kampfbereitschaft auch der politische und wirtschaftliche Preis im Kreml als zu hoch erscheint, könnte sich das ändern. Darauf scheint auch das Kalkül der USA zu beruhen.

Welche Bedeutung für die Dynamik des Konflikts dabei die überraschenden jüngsten ukrainischen Geländegewinne haben, muss sich noch zeigen. Noch überwiegt der Schrecken über das nun sichtbar gewordene Ausmaß der Zerstörung und die Zahl der zivilen Opfer durch die russische Kriegsführung. Putin musste jedenfalls im September beim Gipfel der der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand erleben, dass diese Allianz der Autokraten, an der so wichtige Staaten wie China und Indien beteiligt sind, ihm keinen klaren Rückhalt für seinen Krieg in der Ukraine bieten wollte.

Ein langfristiges Engagement

Die Unterstützung Washingtons für eine demokratische und marktwirtschaftliche Ordnung in der Ukraine begann bereits 1991, als die Sowjetunion zerbrach und die Bürger*innen der Ukraine sich in einem Referendum zu 90 Prozent für ihre Unabhängigkeit aussprachen. Die Ukraine war die wichtigste und wirtschaftlich bedeutendste Republik im Gefüge der Sowjetunion gewesen, ihre Eigenständigkeit schmerzhaft für Moskau. US-Präsident George Bush hatte vor dem Referendum in einer Rede in Kiew noch vor „selbstmörderischen Nationalismus“ der Sowjetrepubliken und einer Schwächung Gorbatschows gewarnt, schwenkte nach dem eindeutigen Votum und heftiger Kritik konservativer Kreise in den USA jedoch bald auf eine Unterstützung der unabhängigen Ukraine um. Sorgen bereiteten Washington vor allem die Atomwaffen auf deren Territorium. 1994 verständigten sich die USA mit der Ukraine, Russland und Großbritannien im Memorandum von Budapest darauf, dass die Grenzen der Ukraine und ihre Unabhängigkeit von allen Unterzeichnerstaaten respektiert werden müssten. Im Gegenzug werde Kiew dem Atomwaffensperrvertrag beitreten, und die Atomwaffen aus Sowjetzeiten, die bis dato in der Ukraine stationiert waren, würden unschädlich gemacht. Es handelte sich um 176 Interkontinentalraketen und 33 große Bombenflugzeuge sowie 1700 Nuklearsprengköpfe, die für die Ukraine einen zweifelhaften Nutzwert hatten.

Mehrfach musste die Ukraine die damaligen Unterzeichner an das Memorandum erinnern, vor allem 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland. Und bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022−zwei Wochen vor dem russischen Angriff − drohte der ukrainische Präsident Selenskij sogar mit einer Aufkündigung der damaligen Übereinkunft. Inzwischen gibt es ukrainische Berichte, dass Russland auf der besetzten Krim atomwaffenfähige Raketen und Flugzeuge stationiert habe.

Seit 1998 arbeitet die Ukraine im Rahmen der „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ auch eng mit der EU zusammen; 2014 wurde von beiden Seiten ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet, das das politische Ziel hatte, die Ukraine an Europa zu binden und die vom damaligen Präsidenten Janukowytsch seit 2012 betriebene Hinwendung zu Russland zu stoppen. Im Verlauf übten EU wie die USA weiterhin Kritik an der mangelnden Unabhängigkeit der ukrainischen Justiz und der unzureichenden Bekämpfung der Korruption, die sich mit der Privatisierung der Staatsbetriebe rapide ausgebreitet hatte. Beides sei ein Hindernis für engere Bindungen des Landes nach Westen. Als Janukowytsch im November 2013 die Gespräche mit der EU einfror, kam es dann zu mehrmonatigen Protesten („Euromaidan“), die bekanntlich Anfang 2014 im Sturz Janukowytschs und seiner Flucht nach Russland endeten. Putin leitete daraufhin die Annexion der Krim ein und schürte die separatistische Rebellion in der Ostukraine. Seit diesem Sommer ist die Ukraine offiziell EU-Beitrittskandidat.

Ab 2002 verkündete die Ukraine ihr Interesse auch an einer Mitgliedschaft in der Nato, legte dies sogar in ihrer Verfassung fest − ein Thema, das bis zum Nato-Gipfel in Bukarest 2008 für Streit sorgte. Dort wurde auf Drängen der USA die Absicht der Nato verkündet, die Ukraine zu einem Mitglied zu machen. Doch es gab innenpolitischen Widerstand in der Ukraine, es gab deutlichen Protest aus Moskau und es gab Zweifel auf westeuropäischer Seite, auch von Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Staatschef Nicolas Sarkozy. Die russische Besetzung der Krim und die separatistischen Bestrebungen in der Ostukraine haben die Hoffnung der Ukraine auf einen raschen Nato-Beitritt zerstört, was auch Selenskij inzwischen einsieht. Aber sie führten seither zu umfangreicher (1,5 Mrd. Dollar von 2014 bis 2019) Militärhilfe Washingtons für Kiew, um die Streitkräfte der Ukraine schlagkräftiger gegen den wachsenden russischen Druck zu machen. Man werde der Ukraine weiter dabei helfen, sagte US-Präsident Biden im Sommer 2021. Für einen Eintritt der Ukraine in den Aktionsplan für die Nato-Mitgliedschaft sei das Land aber noch nicht reif. Die USA verweisen zur Begründung immer wieder auf die anhaltende Korruption, auf demokratische Defizite und vor allem die ungeklärte Lage im Osten der Ukraine.

Unter Donald Trump bestimmten ganz andere Themen die Beziehungen der USA zur Ukraine, sie wurde vom damaligen US-Präsidenten schlicht als Werkzeug im Bemühen um seine Wiederwahl missbraucht, als er Selenskij drängte, gegen Joe Bidens Sohn Hunter zu ermitteln und deshalb als Druckmittel vorübergehend mehrere hundert Millionen Dollar Militärhilfe einfror. Dafür wurde Trump im Kongress angeklagt, was für ihn aber bekanntlich ohne Konsequenzen blieb. Trump stellte die bisherige Außenpolitik der USA auf den Kopf. Er drohte, die Nato zu sprengen oder kurzerhand zu verlassen, beschimpfte die Europäer als geizige Trittbrettfahrer und spielte die europäischen Nato-Mitgliedsstaaten gegeneinander aus.

Die ungläubigen Verbündeten

Als Joe Biden Präsident wurde, musste er die zerstrittene Allianz erst wieder auf Kurs bringen. Schon im Oktober 2021 waren sich die US-Geheimdienste sicher, dass Russland in der Ukraine einmarschieren werde, haben jetzt Recherchen der Washington Post ergeben. Satellitenaufnahmen und abgehörte Gespräche lieferten aus der Sicht der Geheimdienste ein eindeutiges Bild. Putins detaillierte Kriegspläne wurden Biden und seinen engsten Mitarbeitern im Oval Office vorgelegt. Biden schickte CIA-Direktor William Burns, der als ehemaliger Botschafter der USA in Russland Putin genau kannte, nach Moskau, um die russische Führung zu informieren, dass man ihre Absichten kenne. Ein Problem war, dass Bidens Leuten, die ausschwärmten, um die Verbündeten im Herbst 2021 bei verschiedenen Konferenzen über Putins Kriegspläne zu briefen, nicht geglaubt wurde. Immer wieder verwies man sie auf das Jahr 2003 und die vermeintlichen Massenvernichtungswaffen im Irak, die den damaligen Krieg legitimieren sollten, dann aber nie gefunden wurden. Auch die jüngst eklatant falschen Prognosen über die vermeintliche Standhaftigkeit der afghanischen Streitkräfte gegen die Taliban untergruben das Vertrauen in die US-amerikanischen Analysen. Nur die Briten und die baltischen Staaten vertrauten den US-Informationen − im Gegensatz zur ukrainischen Führung: Sie erwartete im schlimmsten Fall eine begrenzte Militäroffensive im Osten der Ukraine. Deswegen - und weil es ein fatales Signal gesendet hätte − wollte Selenskij auch nicht dem Drängen der USA folgen, rechtzeitig aus Kiew an einen sichereren Ort auszuweichen. „Ich brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit“ lautete seine Replik auf den Rat der USA.

In den Wochen vor dem 24. Februar gingen fieberhafte diplomatische Bemühungen weiter, doch selbst bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die am 18. Februar begann, gab es zwischen Europäern und der US-Regierung noch weit divergierende Meinungen über Putins Pläne. Eine Invasion mit ihren absehbaren Folgen für die internationalen Beziehungen erschien schwer vorstellbar − obwohl die USA der Welt fast täglich in aller Offenheit ihren Kenntnisstand mitteilten. Doch seit Beginn des Angriffskriegs zeigt sich, dass Putins Bestreben, sich die Nato vom Hals zu halten, zum genauen Gegenteil geführt hat. Finnland und Schweden sind der Allianz beigetreten, weitere Truppen und Waffen wurden an die Ostflanke des Bündnisses verlegt, nicht nur Deutschland rüstet seine Streitkräfte auf. Beim Nato-Gipfel in Madrid Ende Juni zeigte sich die Allianz, die der französische Präsident Emanuel Macron einst als „hirntot“ bezeichnet hatte, gestärkt und neu formiert. Die Nato ist allerdings nicht mehr als ein Koordinierungsinstrument für die Streitkräfte der Mitgliedsstaaten, auch wenn ihr von russischer Seite immer wieder ein aggressives Eigenleben unterstellt wird.

Russlands wirtschaftliches Erpressungspotenzial

Putin schickte nicht nur schätzungsweise 150.000 Soldaten in den Kampf in der Ukraine, er führt auch einen hybriden und wirtschaftlichen Krieg gegen die westlichen Unterstützer der Ukraine und auch indirekt gegen alle Länder des globalen Südens, die von ungehinderten Getreideausfuhren der Ukraine abhängig sind. Der Westen hat seinerseits Wirtschaftssanktionen verhängt, die russische Exporte faktisch kaum, sehr wohl aber Einfuhren nach Russland auf schmerzhafte Weise behindern. Putin wirft dem Westen vor, ein „Projekt Anti-Russland“ zu verfolgen, doch sein Land werde sich nicht einem „liberalen Totalitarismus“ unterwerfen. Dabei hat er ein großes Erpressungspotenzial vor allem gegenüber Deutschland, weil dessen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas über die Jahre gewachsen war. Putin hat diese Waffe ungehemmt eingesetzt. Die Folgen sind eine mutmaßliche Verdreifachung der Heizkosten In Deutschland und eine mögliche Gasknappheit im kommenden Winter. Soziale Proteste sind schon angekündigt - ein Umstand, den Putin sicher einkalkuliert. Die Energiekrise hat in Europa und den USA die Inflationsrate auf etwa zehn Prozent steigen lassen, auch dasein Faktor mit hoher gesellschaftlicher Sprengkraft.

In den USA werfen republikanische Politiker Joe Biden vor, für die steigenden Preise verantwortlich zu sein und hoffen, dass sie mit dieser Argumentation im November die Kontrolle im Kongress zurückgewinnen können. Wie so oft sind außenpolitische Fragen − wie die Unterstützung der Ukraine durch die USA, die ja von breiten Mehrheiten im Lande befürwortet wird −, offenbar nebensächlich für die Wahlentscheidung der US-Bürger bei den Zwischenwahlen.

„Wir halten zur Ukraine, alle Verbündeten halten zur Ukraine. Wir tun dies, solange es nötig ist, und wir sorgen dafür, dass es keine Niederlage der Ukraine gibt“, sagte Joe Biden beim Nato-Gipfel im Juni in Madrid. Aber sollten die USA in einigen Monaten wieder von populistischen und isolationistischen Kräften im Kongress und in zwei Jahren womöglich erneut von Donald Trump oder einem ähnlich denkenden Republikaner regiert werden, stellen sich die Fragen nach dem politischen Zusammenhalt des Westens von neuem.

 

 


[1] Ein Gastbeitrag von Stefan Schaaf. Er beschäftigt sich seit vier Jahrzehnten journalistisch mit der Politik der USA und hat darüber in der taz, Die Woche und der Financial Times Deutschland geschrieben.