Erdoğans brisante Schaukelpolitik zwischen Russland und dem Westen

Der Krieg verschafft dem Instinktpolitiker politisches Kapital, das er mit vollen Händen ausgibt

von Frank Nordhausen1

Ende Oktober trafen sich im kasachischen Astana der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der Kreml-Herrscher Wladimir Putin zum dritten Mal innerhalb von nur vier Wochen. Sie verabredeten ein Geschäft, das sich für die Nato-Partner der Türkei wie ein Schlag in die Magengrube anfühlen musste. Nach der Sabotage der Nordstream-Pipelines in der Ostsee vereinbarten sie eine massive Ausweitung russischer Gaslieferungen über die umstrittene Pipeline TurkStream, die russisches Erdgas über das Schwarze Meer nach Thrakien im europäischen Zipfel der Türkei führt. Von dort lassen sich sowohl das anatolische Kernland wie die EU über Griechenland mit dem Rohstoff versorgen. Die Türkei solle zu einem „Hub“, einem Umschlagpunkt und einer Börse für Erdgas werden, sagte Erdoğan anschließend. Es ist nicht der erste Erdgas-Deal, den die beiden Autokraten seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar abschließen. Erdoğan unterläuft damit offen die Sanktionspolitik der Europäer, die auf eine Reduktion russischer Gaslieferungen abzielt.

Hatte sich Erdoğan während der Corona-Pandemie mit außenpolitischen Provokationen merklich zurückgehalten, so scheint ihm der Ukraine-Krieg geradezu neue destruktive Energien zu verleihen. Das Gasgeschäft ist nicht der einzige Affront gegen die Russlandpolitik des Nato-Bündnisses, das sich der türkische Langzeitherrscher leistet. Als sich die Präsidenten der sogenannten Schanghai-Gruppe2 Mitte September 2022 in Samarkand trafen und dabei den Iran als neuntes Mitglied aufnahmen, war auch Erdoğan zugegen, auf Einladung Putins. Geradezu genüsslich nutzte er das Treffen, um dem Westen anschließend mit einem Bündniswechsel zu drohen. Er gab bekannt, dass auch sein Land eine Mitgliedschaft in dem vorwiegend sicherheitspolitischen, fast ausschließlich von Autokratien wie Russland, China oder Kasachstan betriebenen Zusammenschluss anstrebe.

Erdoğan geht es darum, dem Westen zu zeigen, dass er auch andere Optionen als Nato und EU besitzt. Sein Ziel heißt „strategische Autonomie“, die Türkei als eigenständige Regionalmacht, die keinem Lager auf Dauer angehört. Deshalb laviert er zwischen den Blöcken und spielt Moskau und Washington gegeneinander aus. Aus diesem Grund baut er die Türkei auch zur Rüstungsgroßmacht aus. Er will sich alle Optionen offenhalten, dadurch seinen Einfluss mehren und die Türkei langfristig als „Brücke zwischen Ost und West“ etablieren.

Zwar ist die von Russland und China geführte Schanghai-Gruppe (bisher) kein formelles Verteidigungsbündnis wie die Nato und ebenso wenig ein echter Wirtschaftsverband wie die EU. Und auch Erdoğan weiß, dass ein Bündniswechsel ihm wenig Vorteile brächte, denn die Nato ist sein Schutzschild gegenüber den unkalkulierbaren Nachbarn Russland, Iran und Syrien. Der Handel mit der EU beträgt rund 40 Prozent des türkischen Handelsvolumens im Vergleich zu (trotz starker Expansion) nur etwa 6 Prozent mit Russland. Dabei geht es aber um teils unverzichtbare und strategische Wirtschaftsgüter. Russland deckt rund 40 Prozent des türkischen Erdgasbedarfs und mehr als ein Viertel der türkischen Öleinfuhren ab. Der russische Staatskonzern Rosatom baut an der Mittelmeerküste das erste Atomkraftwerk der Türkei. Russische Touristen stellen die zweitgrößte Urlaubernation in der Türkei nach den Deutschen. Im Jahr 2021 kamen 70 Prozent der türkischen Weizenimporte aus Russland. 3

Geschickt war der Schachzug trotzdem, weil Erdoğan damit Unabhängigkeit demonstrieren konnte. Da auch Indien und Pakistan in die Schanghai-Gruppe eingebunden sind, fiel es westlichen Politikern schwer, den türkischen Sonderweg klar zu verurteilen. Anschließend machte Erdoğan Front gegen den Ägäis-Rivalen und Nato-Partner Griechenland, dessen Souveränität über zahlreiche bewohnte und unbewohnte griechische Inseln im östlichen Mittelmeer er mit seltener Offenheit infrage stellte. Anfang Oktober drohte er den Griechen auf einer Pressekonferenz in Prag unverhüllt mit einem Angriffskrieg: „Wir können eines Nachts ganz plötzlich kommen.“

Am Schanghai- und am Griechenland-Beispiel lässt sich geradezu beispielhaft Erdoğans Austesten von Grenzen illustrieren. Diese Taktik ist Teil eines brisanten Schaukelkurses zwischen den geopolitischen Blöcken, den der türkische Präsident nicht erst seit der Ukraine-Krise, aber seither mit verstärkter Kraft verfolgt. Und dies zum Erstaunen von Europäern und Amerikanern überaus erfolgreich. Denn der Krieg auf der anderen Seite des Schwarzen Meers hat dem erfahrenen Instinktpolitiker unverhofft politisches Kapital verschafft, das er nun mit vollen Händen ausgibt. Ihm gelingt das Kunststück, pro-Kiew zu agieren ohne anti-Moskau zu sein. Es läuft gut für den Autokraten aus Ankara.

Das sind die Fakten: Die Türkei liefert den ukrainischen Streitkräften effektive Angriffsdrohnen und verweigert russischen Militärschiffen seit März die Durchfahrt durch den Bosporus ins Schwarze Meer. Die Türkei hat im Oktober sogar den Grundstein für eine eigene Drohnenfabrik in der Ukraine gelegt. Erdoğan pflegt ein freundschaftliches Verhältnis mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, den er Ende August im ukrainischen Lwiw besuchte, zwei Monate vor dem deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier. Mehrfach verurteilte er den russischen Angriffskrieg, erklärte die Besetzung der Krim und des Donbass durch russische Truppen für illegal und kritisierte die „illegitimen Referenden“ in den besetzten Gebieten. Er fordert seinen „lieben Freund Putin“ ungewöhnlich deutlich auf, die „territoriale Unversehrtheit, Unabhängigkeit und Souveränität“ der Ukraine zu achten.

Doch seltsam: All das hat bisher nicht dazu geführt, dass der Kremlchef die Türkei als Teil des feindlichen Westens einstufte. Im Gegenteil. Nach dem Treffen vom 24. Oktober nannte der russische Diktator seinen türkischen Kollegen „einen starken Anführer“, der zwar „nicht immer ein einfacher Partner“, aber stets „zuverlässig“ und „vereinbarungsorientiert“ gewesen sei.

Putins Wertschätzung hat unzweifelhaft damit zu tun, dass die Türkei gleichzeitig aus der Nato-Front ausschert und sich benimmt, als gehöre sie nicht mehr zur Allianz. Als einziges Nato-Land trägt Ankara die westlichen Sanktionen gegen Moskau nicht mit. Indem Erdoğan den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland blockiert, handelt er womöglich in Absprache mit dem Kreml, ganz sicher aber in dessen Interesse und de facto wie ein russischer Einflussagent. Die Türkei lässt russisches Gas durch die TurkStream-Pipeline strömen, erwirbt russische Luftabwehrsysteme, hat ihren Himmel für russische Zivilflugzeuge nicht geschlossen und lässt russische Bürger visafrei einreisen. Statt einen härteren Kurs gegen Russland zu fahren, wie von Washington gewünscht, haben Russland und die Türkei während des Ukraine-Kriegs ihre wirtschaftliche Kooperation sogar ausgeweitet. Das hat die ohnehin starke wirtschaftliche Abhängigkeit der Türkei vom Handel mit Russland noch einmal deutlich verstärkt.

Noch schafft es der türkische Präsident, seine Politik geschickt auszubalancieren. Sein größter Trumpf ist dabei, dass es ihm gelang, sich als einziger ernstzunehmender Vermittler zwischen Russland und der Ukraine zu etablieren. Ende Juli landete er einen diplomatischen Coup mit dem Abkommen zwischen Kiew und Moskau zur Ausfuhr ukrainischen Getreides. „Damit hat Erdoğan sein ramponiertes internationales Image aufpoliert und brachte sich außenpolitisch erneut als Vermittler ins Spiel, was sich in der Türkei sofort in positive Umfragewerte ummünzte“, sagt Professor Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte aus Essen.

Dem türkischen Präsidenten geht es bei seiner Ukraine- und Russland-Politik auch, aber keinesfalls in erster Linie um persönliches Prestige und die Festigung der türkischen Position auf der geopolitischen Landkarte. Seine Politik dient zuerst und vor allem innenpolitischen Zielen. Spätestens im Juni 2023 finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Nur wenige Monate bleiben Erdoğan, um seine Macht im Land zu verteidigen.

Für den türkischen Dauerherrscher hat der entscheidende Kampf in seiner politischen Karriere begonnen. Er muss seine Wiederwahl sichern, da ihm im Falleeiner Niederlage Korruptionsprozesse und womöglich das Gefängnis drohen. Das gut dokumentierte Ausmaß seines Machtmissbrauchs macht die Abstimmung zu einem tödlichen Überlebensspiel: Er kann es sich einfach nicht leisten, zu verlieren. Man könne davon ausgehen, dass all seine derzeitigen Handlungen unter dem Primat der bevorstehenden Wahlen stünden, sagt Professor Copur.

Erdoğan benutzt außenpolitische Manöver häufig zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen und der Aktivierung nationalistischer Reflexe, denn er weiß, dass er damit auch Teile der konservativen Oppositionswähler beeindrucken kann. Diesem Ziel dienen die verstärkten Angriffe der türkischen Luftwaffe auf Stellungen der Kurdenguerilla PKK im Nordirak und die Bombardierung kurdischer Dörfer und Städte in Syrien. Sogar ein „Show-Krieg“ um eine unbewohnte griechische Insel kurz vor den Wahlen sei ihm zuzutrauen, glauben Beobachter wie Burak Copur.

Tatsächlich besteht in Griechenland die Sorge, dass Erdoğan es angesichts einer möglichen Wahlniederlage darauf anlege, das Nachbarland zu einem Militärschlag zu provozieren, um eine Krise auszulösen, die seine Wähler hinter ihm versammelt. „Er will, dass die griechische Seite zuerst die Pistole entsichert“, schrieb die Athener Zeitung Kathimerini. Den türkischen Gegenschlag und den darauffolgenden Aufruhr im Westen könne Erdoğan prächtig in sein Narrativ einfügen, dass sich sein Land in einem permanenten Konflikt mit dem Westen befinde. Auch eine neue Eskalation um den ungeklärten Status der geteilten Mittelmeerinsel Zypern scheint denkbar. Die Erfahrung lehrt, dass ein antiwestlicher Konfrontationskurs verlässlich nationalistische Emotionen in der Türkei weckt und Erdoğans Umfragewerte befördert.

Innenpolitisch verschärft der 68-jährige Autokrat den Kulturkampf im Land, um die konservativ-islamische Wählerschaft zu mobilisieren und gegen die säkulare, vorwiegend zur Mittel- und Oberschicht zählende Hälfte des Landes aufzuhetzen. Deshalb werden angeblich „lasterhafte“ Rockfestivals, kulturelle Veranstaltungen, Theater und andere Aufführungen verboten und Politiker der zweitstärksten, prokurdischen Oppositionspartei HDP zu Dutzenden unter „Terrorverdacht“ festgenommen und damit vermutlich ein Parteiverbot vorbereitet. Ein neues umfassendes Zensurgesetz („Desinformationsgesetz“) soll nach der Gleichschaltung fast aller Traditionsmedien nun auch die freie Nutzung der schwer kontrollierbaren sozialen Medien beschränken.

Zuletzt machte die Opposition dem Autokraten ein unverhofftes Geschenk, als sie die leidige Frage des islamischen Kopftuchs der Frauen wieder in den politischen Raum stellte. Erdoğan sprang sofort darauf an und fährt derzeit eine große Öffentlichkeitskampagne, um das Kopftuchtragen in der Verfassung zu verankern und die Opposition als unislamisch zu brandmarken. DieserPolarisierungskurs soll eine Frontstellung der Gesellschaft erzeugen und das Lagerdenken verschärfen– ein Trick, den Erdoğan bei Wahlen schon oft zu seinen Gunsten anwandte.

Allerdings kämpft der türkische Präsident diesmal mit noch nie gekannten Problemen. Als er vor zwei Jahrzehnten an die Macht kam, verdankte er dies vor allem dem weitverbreiteten Unmut über die rasende Inflation, die nie gekannte Schwäche der türkischen Lira und die Korruption der herrschenden Elite. Das alles kommt vielen Türken heute sehr aktuell vor. Da Erdoğan sich mit Einführung des Präsidialsystems 2017 quasi-diktatorische Vollmachten als Alleinentscheider verschaffte, kann er die Verantwortung an den Missständen aber auf niemand anderen mehr abschieben. Die Menschen in der Türkei wissen genau, wem sie ihre desolate Lage verdanken.

Auch wenn sich Erdoğans mäßige persönliche Umfragewerte im Oktober wieder bei 43 Prozent stabilisiert haben, sind die Quoten seiner islamischen Regierungspartei AKP weiter schlecht; sie waren im August erstmals sogar unter 30 Prozent gerutscht. Gemeinsam mit dem rechtsextremen De-facto-Koalitionspartner MHP liegt das Regierungslager laut einer Umfrage des renommierten Metropoll-Instituts von Ende Oktober mit 46 Prozent noch immer unter der nötigen Stimmenmehrheit. „Um die Wahlen zu gewinnen, ist Erdoğan absolut alles zuzutrauen, denn er weiß, wie eng es diesmal für ihn wird“, sagt Professor Copur. Mit dem Beginn des Wahlkampfes ist die Türkei daher in eine Phase höchster Unsicherheit und Unberechenbarkeit eingetreten.

Um die Werte zu drehen und seine Beliebtheit wieder zu steigern, müsste Erdoğan vor allem die hausgemachte Wirtschaftskrise eindämmen, die die Menschen in der Türkei besorgt wie kein anderes Thema. Die explodierende Inflation erreichte im September ein 24-Jahres-Hoch von offiziell 83 Prozent jährlich, doch schätzen unabhängige Experten die wahre Quote mehr als doppelt so hoch ein. Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt ist von mehr als 12.600 US-Dollar im Jahr 2013 auf etwa 7.500 Dollar geschrumpft, der Pro-Kopf-Fleischkonsum um nahezu die Hälfte gesunken. Der Kurs der Landeswährung ist im Oktober auf einen neuen Tiefstand von fast 19 Lira für einen US-Dollar gefallen. Im September stufte Moody’s die Bonität der Türkei auf das Kreditniveau B-3 („hochspekulativ“) hinunter.

Die Inflation treibt viele Geschäftsleute in den Ruin, zahllose Menschen sind gnadenlos verschuldet und im Begriff, in die Armut abzurutschen. Viele junge Leute wandern aus, weil sie keine Zukunftschancen im Land mehr erkennen. Die Türkei steuert auf eine tiefe Systemkrise zu. In dieser katastrophalen Situation geht es für Erdoğan darum, das Steuer noch einmal herumzureißen und die Wählerinnen und Wähler davon zu überzeugen, dass trotz des drohenden Staatsbankrotts nur er allein ihnen eine gute Zukunft garantieren kann.

Zwar sind faire Wahlen in der Türkei ohnehin nicht die Regel. Auf halbwegs freie Wahlen zu verzichten, ist jedoch keine Option für Erdoğan, denn sie sind seine wichtigste Herrschaftslegitimation. Zwar weiß der Staatspräsident aus Erfahrung, dass antiwestliche Propaganda, kulturelle Polarisierung, Repression gegen die Opposition und Manipulationen am Wahltag die Grundlage seiner Wahlsiege sind. Nur werden die üblichen Tricks diesmal wohl nicht ausreichen.

„It’s the economy, stupid“, hatte sich Bill Clinton bei seiner Kampagne für die US-Präsidentschaft 1992 auf den Merkzettel geschrieben. Auch für Erdoğan hängen die entscheidenden Prozentpunkte jetzt an der Frage, ob es ihm noch einmal gelingt, die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Zahlreiche populistische und unorthodoxe Maßnahmen sollen dabei helfen. Mit Zinssenkungen durch die regierungsgesteuerte Zentralbank versucht Erdoğan, kleine und mittlere Unternehmen in Anatolien mit billigen Krediten zu versorgen und Wachstum zu erzeugen, auch wenn er die Hyperinflation damit weiter anheizt. Der Absturz der Lira verteuert Importe, hilft aber exportorientierten türkischen Konzernen und Mittelständlern, die gerade Rekorderlöse erzielen.

Im September kündigte der Präsident ein 50-Milliarden-Euro-Wohnungsbauprogramm für Familien mit niedrigen Einkommen zu günstigen Krediten an: eine Vier-Zimmer-Eigentumswohnung für 850.000 türkische Lira, umgerechnet knapp 47.000 Euro. Gefördert vom Staat und bevorzugt für junge Familien und arme Familien. Erdoğan ließ den Mindestlohn im laufenden Jahr bereits zweimal massiv erhöhen, avisierte Steuererleichterungen sowie die Erhöhung der Beamtengehälter und Renten, um schwankende Stammwähler einzufangen. Die Armen, eine bedeutende Wählerschaft, will er mit Staatsgeld überschütten. Seine Wahlgeschenke bedeuten allerdings eine drastische weitere Erhöhung der Staatsausgaben. Sie werden riesige Löcher in die öffentlichen Finanzen reißen und die nächste Regierung mit einem gewaltigen Schuldendienst belasten. Das ist hochriskant. Doch damit das Projekt „Wiederwahl“ gelingt, braucht Erdoğan noch viel mehr Geld. Geld, das er nicht hat.

Trotz eines exportgetriebenen Wirtschaftswachstums von derzeit 7,6 Prozent sind die Mittel für weitgefächerte Wohltaten aus eigener Kraft nicht aufzutreiben. Deshalb wirbt der türkische Präsident geradezu verzweifelt um Investitionen und Milliardenkredite aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten, mit denen er noch vor Kurzem verfeindet war. Den jahrelangen Streit mit Israel hat er beigelegt; inzwischen wurden nach vier Jahren wieder Botschafter ausgetauscht. Mit Ägyptens Diktator Abdel Fattah al-Sisi bemüht sich Erdoğan um eine Normalisierung der Beziehungen und ist dafür sogar bereit, die bisher protegierten islamistischen Muslimbrüder fallen zu lassen.

Sogar mit Syriens Gewaltherrscher Assad, gegen den er seit zehn Jahren Krieg führt, sucht Erdoğan eine Einigung, die offenbar darauf zielt, dass er vor den Wahlen freie Hand zum Angriff auf die selbstverwaltete syrische Kurdenregion „Rojava“ erhält. Außerdem möchte er eine nennenswerte Zahl der rund vier Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei zurück in ihre Heimat schicken, da die anfängliche Willkommenskultur gegenüber den Syrern inzwischen in Ressentiments und rassistische Übergriffe umgeschlagen ist.

Doch niemand anderes kann ihm wirtschaftlich mehr aus der Klemme helfen als ausgerechnet der geopolitische Rivale Russland, mit dem die Türkei in Syrien, in Libyen und im Kaukasus auf Kriegsfuß steht. Anfang August traf Erdoğan deshalb mit dem Kremlchef Wladimir Putin im russischen Sotschi am Schwarzen Meer persönlich zusammen und vereinbarte eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit. Während Putin andere Spitzenpolitiker zuvor an einem sechs Meter langen Tisch empfing, betrug die Gesprächsdistanz zu Erdoğan nur eine Armlänge. Die zwei Autokraten rückten so eng zueinander wie nie zuvor. Und obwohl das Nato-Mitglied Türkei innerhalb des Bündnisses die Südostflanke auch gegen Russland absichern soll, kuschelt Erdoğan auch weiterhin mit dem Kreml-Chef, um Milliarden locker zu machen. Putin seinerseits benötigt Verbündete gegen die westlichen Sanktionen. Wichtig ist die Türkei für Putin auch als eine der letzten Brücken zum Westen. Beide Herrscher versuchen, sich gegenseitig zu stützen. 

Nach anfänglicher Geheimnistuerei ist inzwischen auch klarer geworden, was die Autokraten in Sotschi aushandelten. Zwar betonen türkische Regierungsvertreter offiziell, man habe nur den Ausbau bestehender Handels- und Verkehrsbeziehungen gestärkt, nicht aber die Geldwirtschaft einbezogen. Doch tatsächlich bekommt Ankara dringend nötige Finanzinfusionen in die türkische Zentralbank von zunächst 6,1 Milliarden Dollar an Krediten, weitere Milliardenkredite sollen folgen. Zudem kann die Türkei russische Waren und Gasrechnungen teilweise in Rubel begleichen, um ihre schwindenden Devisenreserven zu schonen. Russland wiederum parkt damit von Sanktionen betroffenes Kapital in der türkischen Zentralbank. Tatsächlich verzeichnen Finanzanalysten seit August einen massiven Anstieg ausländischer Devisenflüsse unbekannter Herkunft in die Türkei, wie die Nahost-Internetplattform Al-Monitor berichtete.

Nach „Sotschi“ arbeiteten fünf türkische Banken mit mindestens drei sanktionierten russischen Banken zusammen und ließen russische Touristen am Bosporus mit ihren heimischen „Mir“-Kreditkarten zahlen. 4Damit unterlief die Türkei die Sperren westlicher Kreditkartenunternehmen für russische Banken. Und während der EU-Luftraum für russische Flugzeuge geschlossen wurde, hat die Türkei ihren zivilen Luftverkehr mit Russland seit Kriegsbeginn mehr als verdreifacht. Im September behauptete zudem die Regierung der Republik Zypern, dass Russland auch Gold durch die Türkei schleuse – das wäre ein klarer Sanktionsbruch.

Gleichzeitig haben tausende russischer Geschäftsleute ihren Firmensitz an den Bosporus verlegt, meldete Al-Monitor. Diese hätten seit Kriegsbeginn Milliarden Dollar in Immobilien und Firmenbeteiligungen investiert und zugleich Waren aus Europa importiert, um sie nach Russland weiterzuleiten. Türkische Medien wie die Wirtschaftszeitung Dünya berichteten über Umdeklarierungsmanöver für westliche Waren, die teils dem Embargo gegen Russland unterliegen. Sie würden etwa im türkischen Mittelmeerhafen Mersin angeliefert, türkisch etikettiert und anschließend nach Russland transportiert. Selbst wenn die Produkte nicht auf der Sanktionsliste stehen sollten, hilft ihr Import der russischen Wirtschaft und unterminiert so den Geist der Sanktionen.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Erdoğan westliche Sanktionen ausbremst. Er tat das bereits Anfang der 2010er Jahre, als unter mutmaßlicher Beteiligung staatlicher türkischer Banken große Mengen Gold in den Iran gebracht wurden, um auf diese Weise die US-amerikanischen Finanzsanktionen zu umgehen. Jetzt hilft die Türkei dem Kreml, die Wirkung der westlichen Sanktionen abzuschwächen und konterkariert auf diese Weise deren Ziel, die russische Wirtschaft zu treffen. „Die Türkei ist damit zum strategischen Knotenpunkt für die Umgehung der westlichen Sanktionen geworden“, meint Burak Copur. „Putin pumpt massiv Geld in die Türkei, um die Sanktionen auszuhebeln, aber er will mit den Milliarden auch Erdoğan helfen, an der Macht zu bleiben.“

Allerdings testet Erdoğan stets, wie weit er gehen kann. Trifft er auf harten Widerstand, rudert er sofort zurück. So widerriefen zwei türkische Geschäftsbanken ihre Akzeptanz russischer „Mir“-Kreditkarten Anfang Oktober, nachdem die US-Regierung sie vor einem Ausschluss vom internationalen Zahlungsverkehr gewarnt hatte; die drei beteiligten Staatsbanken wollten folgen.

Doch helfen Erdoğans Finanzierungstricks auch, die türkische Bevölkerung wieder von seiner Führungsstärke zu überzeugen? Vieles könne die staatliche Propagandamaschine schönreden – nicht aber den Lira-Kurs, der an jeder Wechselstube für alle Menschen klar sichtbar sei, sagt dazu der in Istanbul lebende Türkei-Experte Gareth Jenkins von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. „Es ist völlig unklar, ob es Erdoğan mit den Maßnahmen gelingt, den Lirakurs zu stabilisieren und den Kollaps der Wirtschaft im Winter zu verhindern.“

Zudem begebe sich Erdoğan in eine zunehmende, hoch riskante Abhängigkeit von Russland, die wegen der enormen Gas- und Öleinfuhren des russischen Hauptlieferanten ohnehin schon gefährlich hoch sei, meint Jenkins. „Erdoğan ist ein Pragmatiker der Macht, dem der Ukraine-Konflikt unverhofft neue Chancen beschert hat, innenpolitisch seinen Kopf zu retten - aber auf Kosten des Nato-Bündnisses, das der Schlüssel für seine eigene Sicherheit ist.“ Doch müsse Erdoğan aufpassen, dass er bei seinen Schaukelmanövern nicht überziehe. „Es ist unklar, ob die Türkei bereits rote Linien überschreitet, aber sie steht zumindest kurz davor.“

Jede Vertiefung der wirtschaftlichen Bindungen zu Moskau verschärft die Reibungen mit dem Westen, die Erdoğan bereits mit seiner Putin-freundlichen Blockade des Nato-Beitritts von Schweden und Finnland verstärkte. Ende August mahnte das US-Außenministerium die Türkei und türkische Firmen unmissverständlich, „kein sicherer Hafen für illegale russische Vermögenswerte oder Transaktionen zu werden“ und „ihre Energieabhängigkeit von Russland zu verringern“. Länder, die Russland bei der Umgehung der Sanktionen hülfen, liefen Gefahr, selbst sanktioniert zu werden. Die türkischen Banken haben, wie erwähnt, prompt darauf reagiert.

Von dieser Warnung abgesehen, war aus Washington, Brüssel oder Berlin aber kaum ein kritisches Wort zu Erdoğans möglichem Sanktionsbruch zu vernehmen. Ob es dem türkischen Präsidenten letztlich gelingt, einen Waffenstillstand in der Ukraine zu vermitteln, ist zwar fraglich, aber er gilt als der letzte quasi westliche Staatslenker, dem man einen gewissen Einfluss auf Putin zutraut. Das ist der Grund, warum die Nato-Partner bisher über seine Extravaganzen hinwegsehen.

„Das Problem ist die herausragende geopolitische Bedeutung der Türkei und ihre enge Verflechtung mit europäischen Banken und Industriefirmen“, sagt dazu Yavuz Baydar, Chefredakteur der exiltürkischen Nachrichtenplattform Ahvalnews. Womöglich hängt die auffällige diplomatische Zurückhaltung damit zusammen, dass die Nato-Norderweiterung erst durch das türkische Parlament ratifiziert sein soll, denn damit besitzt Erdoğan einen starken Hebel gegenüber der Allianz. Auch die Ausweitung der russischen Gaslieferungen nutzt Erdoğan nicht nur im Wahlkampf zu Hause, sondern sie bietet ihm auch eine unverhoffte weitere Möglichkeit, auf seine westlichen „Partner“ Druck auszuüben. Erdoğan hat sehr genau beobachtet, wie Putin die Energiewaffe handhabt. Er könnte auf die Idee kommen, es ihm auf sicherheitspolitischem Gebiet gleichzutun. Wenn es bisher überhaupt einen Gewinner des Ukraine-Kriegs gibt - dann ist es der Autokrat vom Bosporus.

 

1Frank Nordhausen waren jahrelang Türkei-Korrespondent der Berliner Zeitung. Als persona non grata eingestuft, musste er das Land verlassen.

2Der Schanghai-Gruppe gegründet 2001, Mitglieder Volksrepublik China, Indien, Kasachstan, Krigistan, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan.

3 https://www.dw.com/de/angst-vor-teurem-brot-in-der-t%C3%BCrkei/a-60889306

4Auf Druck der USA haben allerdings mehrere Banken inzwischen das MIR-System wieder aufgegeben.