Zur Lage der Zivilgesellschaft in Russland

Von Anke Giesen1

aktualisierter Stand: 4.11.2022

Wenn man in Deutschland über die russische Zivilgesellschaft spricht, werden vornehmlich Ereignisse wie an die Zerstörung der Nawalny-Stäbe zu Beginn des Jahres 2021 oder die gerichtlich erzwungene Liquidierung der Menschenrechtsorganisation Memorial International im Dezember 2021 erwähnt,  wodurch ein sehr düsteres Bild transportiert wird.
Insgesamt gestalten sich die Verhältnisse in Bezug auf die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland aber deutlich vielfältiger, was ich im Folgenden darstellen möchte.
Zunächst einmal ist es wichtig zu erwähnen, dass die russische Zivilgesellschaft über keine monolithische Struktur verfügt, sondern in ihr mindestens drei Strömungen voneinander zu unterscheiden sind.
Da sind zum einen die zahlreichen NGOs, deren Tätigkeit sich auf Themen richtet, die mit staatlichen Anliegen konform gehen, so dass sie von den Behörden als unterstützend oder zumindest nicht als problematisch eingeschätzt werden. Das können beispielsweise Tätigkeiten zur Ortsverschönerung in einem traditionellen Sinne, die Betreuung von Veteranen, das Durchführen von Jugend- und Familienfreizeitangeboten, die Organisation von Sportevents oder Ähnliches sein. Diese NGOs können sich, wenn sie geschickt ihre Themen setzen und berücksichtigen, was staatlicherseits im Trend liegt, bequem über innerrussische Stiftungen und Geldgeber finanzieren und ihrer Tätigkeit weitestgehend ungestört nachgehen.
Einen weiteren Teil russischer Zivilgesellschaft stellen NGOs da, die durch staatliche Akteure wie das (regionale) Innenministerium, die Präsidenten- oder Gouverneursverwaltungen oder die Spezialdienste ins Leben gerufen wurden und die einen eindeutigen Auftrag zur Unterstützung der Regierungspolitik haben. Das sind die sogenannten „Gongos“ (government-organized NGOs), die in der Öffentlichkeit mit Forderungen auftreten, die zukünftige Regierungspolitik bereits schon vorweg nehmen. In der Vergangenheit waren das Forderungen wie z.B. nach dem härteren Durchgreifen im Umgang mit „nichttraditioneller Sexualität“, „blasphemischer“ Kunst oder nach einer bereits im frühen Kindheitsalter beginnenden systematischen Vorbereitung auf den Militärdienst. Zum Teil übernehmen diese Organisationen auch Aufträge, wie den gezielten Protest gegen die Tätigkeit von Organisationen, die dem Staat ein Dorn im Auge sind oder Versuche, diese auf die lange Sicht vollständig in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Auf diese Art und Weise können insbesondere die regionalen Gebietsregierungen ihre auf solche Aktionen erfolgenden politischen Entscheidungen als „von unten aus der Zivilgesellschaft“ motiviert ausgeben. Zum Teil nehmen die Aktionen bestimmter Gongos in Zusammenhang mit öffentlich bekannten Kritikern der Regierungspolitik einen extrem aggressiven Charakter an, so dass sie zum Teil auch als „uncivilized society“ bezeichnet werden.
An diesen beiden Teilen russischer Zivilgesellschaft wird deutlich, dass dem russischen Staat nach wie vor daran gelegen ist, den Eindruck zu vermeiden bzw. zu verwischen, dass die Gesellschaft und ihre Entwicklung wie zu Sowjetzeiten umfassend von der Regierung gesteuert wird, sondern man bemüht sich den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass sie sich angeblich als Ergebnis des Engagements verschiedener gesellschaftlicher Kräfte entwickelt. Dass die eingeschlagene Richtung dabei „zufällig“ mit der Regierungslinie übereinstimmt, wird als Ausdruck einer hohen Einigkeit zwischen Volk und Regierung und als Qualität dargestellt, die Russland westlichen Ländern voraushat. Diese Fassade zeigt zwar angesichts des Massenexodus nach Bekanntmachung der Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte im September 2021 immer deutlicher gewisse Risse, es wird aber noch weiter versucht, sie aufrechterhalten.
Dieses System von staatlicher Steuerung zivilgesellschaftlicher Tätigkeit könnte reibungslos funktionieren, wenn es nicht den dritten Teil der Zivilgesellschaft gäbe, nämlich die Organisationen, deren Tätigkeit darauf gerichtet ist, staatlich und gesellschaftlich marginalisierte Themen aufzugreifen bzw. sogar Missstände aufzudecken oder zu verändern. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass nicht alle Organisationen, die diese Funktion erfüllen, zu diesem Zweck gegründet werden, sondern dass viele Organisationen erst über ihre Tätigkeit in diese Situation geraten. So mag z.B. ein lokaler Angelverein über das Fischsterben in seinem Angelgewässer auf Missstände der lokalen Umweltpolitik aufmerksam werden. Damit steht die Organisation vor der Entscheidung, diesem Umstand auf den Grund zu gehen, was bedeutet, möglicherweise in Opposition zu einem mächtigen lokalen Wirtschaftsplayer zu geraten und in Folge dessen den lokalen Sponsor zu verlieren oder sich ein neues Gewässer suchen zu müssen, an dem man seiner Leidenschaft frönt. Die meisten Vereine werden den zweiten Weg suchen, aber es gibt immer wieder auch lokale Vereine, die etwa aus Verantwortung für den Erhalt des heimatlichen Ökosystems, der regionalen Baudenkmäler oder Ähnlichem Missstände solcher Art an die Öffentlichkeit bringen und den Kampf mit lokalen Machthabern aufnehmen. In einem solchen Fall muss die Organisation häufig auf die lokale Sponsorschaft verzichten und sich beispielsweise über Croudfunding weiterfinanzieren, was aber durchaus von Erfolg gekrönt sein kann. Solange die Breitenwirkung des Engagements in einem für die Behörden kalkulierbaren Rahmen bleibt, werden sie die Organisation auch gewähren lassen.
Möchte aber eine zivilgesellschaftliche Organisation in Russland eine größere Breitenwirkung in Bezug auf die Bearbeitung von gesellschaftlichen Themen erzielen, die vom Staat ignoriert oder gezielt unterdrückt werden, mit ihrer Tätigkeit gar die Aufdeckung und Veränderung von Missständen erzielen, wird die Finanzierung über Croudfunding nur selten ausreichen. Da sich aber inländische Stiftungen und potentielle Sponsoren bei den Behörden in der Regel eher nicht unbeliebt machen wollen, sind die betreffenden Organisationen dann auf finanzielle Förderung aus dem Ausland angewiesen.
Das Einwerben von Auslandsförderung war lange eine sehr effektive Möglichkeit für russische NGOs, heikle, bei den Machthabern unpopuläre Themen mit einer erfolgreichen Breitenwirkung zu bearbeiten und in die innerrussischen Diskurse einzubringen. Zu nennen sei hier etwas die Beförderung der Durchsetzung von LGBTQ-Rechten, der Verweis auf die durch die Öl- und Gasindustrie verursachten Umweltschäden, die Aufklärung der sowjetischen Staatsverbrechen oder insbesondere das Beobachten von Wahlen und der Nachweis von Fälschungen.
Als im Winter 2011 als Reaktion auf die gefälschten Dumawahlen und im Spätsommer 2012 nach Putins Rückkehr auf den Präsidentenposten sich in den Großstädten Russland ein breites Protestpotenzial entwickelte, wurde den Machthabern klar, dass die durch das Ausland geförderten Organisationen wie die Wahlbeobachtungs-NGO „Golos“ durchaus ein Gefahrenpotenzial für die viel beschworene „Stabilität“ durch die „putinsche Machvertikale“ darstellte.
Um also die auslandsgeförderten Organisationen wieder der staatlichen Kontrolle zu unterstellen, wurden zeitnah mehrere Gesetze verabschiedet, die es seitdem den Behörden erlauben, auch auf finanziell unabhängige Organisationen starken Druck auszuüben und ihre Tätigkeit so erfolgreich „einzuhegen“.
Das wichtigste Gesetz ist dabei das im November 2012 verabschiedete „Agentengesetz“, das NGOs, die „politisch tätig“ sind und über Auslandsförderung verfügen, zwingt, sich in das Register für „ausländische Agenten“ eintragen zu lassen. Der Begriff „politische Tätigkeit“ wird behördlicherseits dabei sehr weit ausgelegt, so dass praktisch jede Tätigkeit, in deren Rahmen bestehende Verhältnisse kritisch beleuchtet werden, als „politisch“ gilt. Die im Register eingetragenen Organisationen müssen in jeglicher Form von Veröffentlichung – und sei es ein kurzer Post in den sozialen Netzwerken – erklären, dass es sich um eine Publikation eines „ausländischen Agenten“ handelt. Da dies häufig bei irgendeinem Post oder Flyer vergessen wird, kann so die NGO immer wieder mit Unterlassungsstrafen überzogen werden. Vor dem Hintergrund der stalinistischen Geschichte, in der zahlreiche Bürger unter der Standard-Anklage der „Spionage“ verhaftet und erschossen wurden, geht das Label des „ausländischen Agenten“ faktisch mit gesellschaftlicher Stigmatisierung einher. Der weniger mutige Teil der Bevölkerung wird die Nähe zu einer entsprechend gelabelten Organisation meiden. Zudem müssen laut Gesetz die im Register gelisteten Organisationen extreme Auflagen erfüllen, was die regelmäßige Einsicht in ihre Buchhaltung anbelangt. Auf diese Weise ist ein bedeutender Teil der Arbeitskraft der Beschäftigten durch die Vorbereitungen auf die entsprechenden Prüfungen absorbiert, was die Tätigkeit der Organisation behindert. Auch gibt es in Bezug auf die Buchhaltung in vielen Fällen etwas zu bemängeln, was dann zu den entsprechenden Geldstrafen führt.
Das Gegenstück zum „Agentengesetz“ stellt das ebenfalls 2012 verabschiedete „Gesetz über unerwünschte Organisationen“ dar. Mit Hilfe dieses Gesetzes kann potenziellen ausländischen Geldgebern die Tätigkeit in Russland verboten werden. Nachdem zunächst lediglich die finanzstarke US-Stiftung „National Endowment for Democracy“ dieses Schicksal ereilte, sind seit dem vergangenen Jahr auch die deutschen politischen Stiftungen in Russland verboten. Mit dem Gesetz über unerwünschte Organisationen konnten so die aus dem Ausland zu russischen NGOs fließenden Geldströme weitestgehend eingeschränkt werden.
Im vergangenen Jahr ist das Agentengesetz zudem auf natürliche Personen ausgeweitet worden, was die stigmatisierende Wirkung massiv verstärkt. Zudem ist noch ein neues Bildungsgesetz verabschiedet worden, das Organisationen, die im Rahmen ihrer Tätigkeit auch Informations- und Bildungsarbeit leisten, abverlangt, sämtliche Veranstaltungen mit den lokalen Behörden abzustimmen. Diese können die Veranstaltung dann ohne Angabe von Gründen untersagen.
Mit Hilfe dieser Instrumente können die russischen Behörden also auch die Organisationen in Bezug auf die Größe ihres Wirkungskreises kontrollieren, die sich von innerrussischer Förderung unabhängig gemacht haben: Wird ihre Tätigkeit dem Staat zu gefährlich, wird zunächst verlangt, dass sie sich in das Register für ausländische Agenten eintragen. Sollten Überprüfungen und Geldstrafen nicht reichen, um ihr Engagement ausbremsen, werden die Geldgeber für unerwünscht erklärt. Wenn dies auch nicht dazu führt, dass die Organisation ihre Tätigkeit signifikant verringert, wird dann zu weiteren Methoden gegriffen, wie z.B. Veranstaltungen nicht zu genehmigen, die Räumlichkeiten baupolizeilich zu sperren, die NGO mit Gerichtsverfahren wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu überziehen, Strom und Wasser abzustellen und dergleichen mehr. Im Extremfall können Verbotsverfahren zur vollständigen Auflösung führen, wie im Fall der Nawalny-Stäbe und des internationalen Dachverbands des Memorial-Netzwerks geschehen. Dieser Extremfall ist bisher glücklicherweise erst selten eingetreten. Die meisten staatskritischen Organisationen befinden sich im Rahmen dieser möglichen Eskalationsspirale irgendwo im Mittelfeld und können entsprechend noch agieren. Dies trifft selbst für die regionalen Organisationen des Memorial-Netzwerks zu, da bisher lediglich der internationale Dachverband und zwei seiner Mitgliedsorganisationen (das Menschenrechtszentrum und der regionale Verband in Perm) von Zwangsliquidation betroffen waren.
Wer sich jedoch als Mitarbeiter einer NGO mit den im Rahmen von Putins „Spezialoperation“ in der Ukraine verübten Kriegsverbrechen wie die Ermordung von Zivilisten, die Zwangsverschleppung von ukrainischen Bürgern nach Russland oder die Entführung von Kindern beschäftigt oder auch nur darüber berichtet, muss mit einer persönlichen Verfolgung durch die Sicherheitsorgane rechnen. Das kann von wiederholten Telefonanrufen über ständige Ladungen auf die zuständige Polizeiwache und Besuchen durch den Abschnittsbevollmächtigten bis zur Konfiszierung von Vermögen oder Immobilien reichen. Laut mündlichen Berichten kam es auch schon zu Verhaftungen von Personen an Orten, die wie z.B. die U-Bahn mit Überwachungskameras ausgestattet sind.
Trotz dieser Schikanen, dem engagierte und kritisch denkende Menschen und die von ihnen gegründeten Organisationen in Russland potenziell ausgesetzt sind, lassen sich viele Mitarbeiter von NGOs nicht entmutigen und führen ihre Tätigkeit über Umwege weiter – sei es, indem sie neben ihrer als Agent gelisteten Organisation eine zweite gründen, ihre ins staatliche Visier geratende NGO umbenennen. Eine weitere Strategie besteht darin, gar nicht erst eine Organisation offiziell registrieren zu lassen, sondern an heiklen Themen als informeller Zusammenschluss von engagierten Personen zu arbeiten. Hat die allerdings bereits die persönliche Verfolgung durch die Behörden eingesetzt, bleibt nur noch die Möglichkeit, sich aus der üblichen Reichweite des „Radars“ der Sicherheitsbehörden zurückzuziehen, öffentliche Plätze, den Personennahverkehr und die offizielle Wohnung zu meiden, stattdessen abgelegene Orte aufzusuchen oder das Land ganz zu verlassen.
Im Zuge des Angriffskriegs gegen die Ukraine formieren sich zudem zunehmend Organisationen im Untergrund, z.B. um den aus der Ukraine nach Russland verschleppten Menschen zu helfen und sie aus Russland wieder herauszubringen. Die Kompetenzen, die  Menschen bereits zu Zeiten der UdSSR zur Abwehr eines übermächtigen Staats entwickelten wie die Organisation in informellen Netzwerken, sind vielen Bürgern Russlands noch geläufig und werden in Zeiten des signifikanten Abbaus von Freiheitsrechten wieder reaktiviert.

 

 

1

Dr. Anke Giesen, MEMORIAL Deutschland