Eine neue Ostpolitik für die Zeitenwende

von MICHAEL ROTH

Juli 2022

Mitglied des Deutschen Bundestages Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Weckruf für die Bundesrepublik. Er zwingt uns, vermeintliche Gewissheiten zu überdenken und unsere Politik der vergangenen Jahrzehnte gegenüber Russland und den Staaten Mittel-und Osteuropas grundlegend auf den Prüfstand zu stellen.

Die SPD ist zu Recht stolz auf Willy Brandts Ostpolitik der 1970er Jahre, für die er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie hat entscheidend dazu beige- tragen, die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges und die Teilung Deutschlands zu überwinden. Trotz aller historischen Verdienste dürfen wir uns angesichts der grundlegenden Veränderungen in der Welt aber nicht hinter Willy Brandt verstecken. Jede Zeit will ihre eigenen Antworten, ließ Brandt in einer seiner letzten Reden verlauten. Das gilt auch für eine neue Ostpolitik, die wir den veränderten Realitäten anpassen und "in die neue Zeit" führen müssen – auch das muss Teil der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende werden.

Selbstbewusst, aber auch selbstkritisch müssen wir uns der neuen, unfriedlichen Welt mit ihren Krisen und Konflikten stellen. Dabei ist es mitnichten notwendig, sozialdemokratische Traditionslinien preiszugeben. Auch wenn die Weltlage zu Brandts Zeiten kaum mit der heutigen gleichzusetzen ist, können wir manches von den Erfol- gen der Ära Brandt, aber auch von den eklatanten Fehlern der Ost- und Russlandpolitik seit dem Beginn der 1980er Jahre lernen.

Bilanz der Brandtschen Ostpolitik

Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik, war ein Realist im klassischen Sinne. Er war der Überzeugung, dass es in der internationalen Politik nur um Macht und Interessen von Staaten geht. Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte traten dahinter zurück. Die großen Erfolge der Ostpolitik gehen nicht zuletzt auf diesen Realismus zurück: die Anerkennung der Wirklichkeiten, die nüchterne Analyse des internationalen Kontexts, der Motive und Interessen der beteiligten Staaten.

Brandt und Bahr betrachteten die Wiedervereinigung nicht als ein deutsch-deutsches Problem, sondern als ein außenpolitisches, dessen Schlüssel vor allem in Moskau lag. Für sie war klar, dass die deutsche Einheit erst durch die Überwindung der Teilung Europas und die Schaffung einer europäischen Friedensordnung überhaupt möglich werden würde. Dafür musste der Westen zunächst den Status quo der Teilung in Europa akzeptieren. Die Entspannungspolitik war somit kein pazifistischer Selbstzweck, sondern verfolgte ein konkretes nationales Interesse.

Zudem konnte die Entspannung erst gelingen, wenn diese auch im Interesse der beiden Supermächte war. Nachdem der Kalte Krieg mit der Kubakrise seinen vorläufigen Tiefpunkt erreicht hatte, öffnete sich Anfang der 1960er Jahre ein günstiges Zeitfenster. Die UdSSR war daran interessiert, ihren eigenen Herrschaftsbereich zu festigen. Gleichzeitig legte US-Präsident Kennedy mit der "Strategie des Friedens" den Grundstein für die friedliche Koexistenz mit dem kommunistischen Block. Die von Brandt vorangetriebene Verständigung mit dem Osten war also kein deutscher Alleingang, sondern erfolgte in enger Abstimmung mit den westlichen Verbündeten.

Zur realistischen Weltsicht gehörte auch die Erkenntnis, dass Dialogbereitschaft ohne Wehrhaftigkeit wirkungslos ist. Brandts Einsatz für Frieden und Entspannung war auch deshalb so erfolgreich, weil er von militärischer Stärke im Zeichen der nuklearen Abschreckung getragen wurde. Der größte Anstieg des Wehretats in der Geschichte der Bundesrepublik geht auf die sozial-liberale Regierungszeit zurück. Damals wurden jährlich mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgegeben, die Truppenstärke der Bundeswehr lag bei 500.000 Soldaten.

Doch führte dieser knallharte Realismus zu Beginn der 1980er Jahre auch zu weitreichenden Versäumnissen der Ostpolitik: Der anfänglich erfrischende Realismus wurde zu einer erstarrten, empathielosen Ordnungspolitik, die den aufstrebenden Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und Osteuropa die kalte Schulter zeigte und auf eine teils zweifelhafte Nähe zu den kommunistischen Regimen setzte. Brandt schätzte zwar das bürgerrechtliche Engagement, doch hielt er den Wandel von unten aus der Zivilbevölkerung für unwahrscheinlich und sogar gefährlich. Die Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 hatte ihn nachhaltig traumatisiert. Die Bewahrung von Stabilität und Frieden stand für viele in der SPD in dieser Phase über allem. Zu den Ausnahmen zählten Norbert Gansel, Gert Weisskirchen und Freimut Duve, die frühzeitig Kontakte zu den Bürgerrechts- und Dissidentenbewegungen in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR knüpften. Aber sie blieben eben Einzelstimmen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung wurde die Bundesrepublik vom Frontstaat zu einem Land in der Mitte Europas, das nur noch von befreundeten Staaten umgeben war. Das westliche Gesellschaftsmodell hatte friedlich über den Kommunismus gesiegt und sollte fortan ohne attraktive Alternative bleiben. In Europa, so die weit verbreitete Hoffnung, gab es nur noch Demokratien, die friedlich und kooperativ zusammenarbeiten würden. Diese Weltsicht war für die deutsche Außenpolitik der vergangenen 30 Jahre prägend und hatte insbesondere im Umgang mit Russland verhängnisvolle Konsequenzen. So glaubten wir nach dem Ende der Sowjetunion (zu) lange, dass die Transformation Russlands unumkehrbar sei, und anderseits, dass unser Gesellschaftsmodell so attraktiv und alternativlos sei, dass jegliche wirtschaftliche Verflechtung zwangsläufig zum Wandel beitragen würde. Aus "Wandel durch Annäherung" wurde "Wandel durch Handel", am Ende fand der Handel sogar ganz ohne Wandel auf russischer Seite statt. Selbst als Putin sein autokratisches System endgültig etablierte und immer wieder Kriege in der Nachbarschaft anzettelte, hielt Deutschland unverändert am Dialog fest. Von der Ostpolitik waren eigentlich nur noch wirtschaftliche Beziehungen übrig geblieben, doch erlag man weiterhin der Annahme, dass Verflechtung Russland einhegen würde.

Allerdings wäre es zu einfach, die Schuld nur auf politische Naivität zu schieben: Deutschland hat von der Partnerschaft mit Russland enorm profitiert. Unser wirtschaftlicher Wohlstand der vergangenen Jahrzehnte war nicht zuletzt auch auf billiger russischer Energie gebaut. Als Putins wahres Gesicht nicht mehr zu übersehen war, hätte ein Kurswechsel enorme wirtschaftliche und politische Kosten bedeutet. Auch die deutsche Bevölkerung war bis zuletzt mehrheitlich der Auffassung, dass wir Nachsicht mit Putin üben müssen, um Frieden und Stabilität zu wahren. Schon damals hätte man der Bevölkerung erklären müssen, dass Freiheit und Sicherheit nicht kostenlos sind, und der Wirtschaft, dass russisches Gas allein nicht als Übergang zur CO2-neutralen Zukunft taugt.

All dies führte in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren zu folgenschweren strategischen Fehlern in der Russlandpolitik. Drei Fehler fallen besonders ins Gewicht:

  1. Wir haben trotz der bedenklichen innen- und außenpolitischen Entwicklungen auf eine besondere Partnerschaft mit Russland gesetzt und dafür die Interessen unserer mittel- und osteuropäischen Partner nicht ernst genommen.
  2. Wir haben uns immer tiefer in eine einseitige Energieabhängigkeit von Russland begeben und diese nach 2014 mit Nord Stream 2 sogar noch weiter ausbauen wollen.
  3. Wir haben vergessen, dass Dialogbereitschaft ohne Wehrhaftigkeit und militärische Abschreckung nicht reicht.

Diese Fehler beruhten auf Irrtümern, die nicht allein für die sozialdemokratische Außenpolitik prägend waren. Sie bestimmten auch das Handeln von CDU/CSU und anderen Parteien gegenüber Russland.

Eine neue Ostpolitik für die Zeitenwende

Für Brandt waren zwei Prinzipien leitend: der Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt sowie die Anerkennung der Unverletzlichkeit von Grenzen in Europa. Gegen beide Prinzipien hat Putin wiederholt eklatant verstoßen. Ein Bundeskanzler Brandt hätte diese Verstöße, die mit allem brechen, wofür er jahrzehntelang gekämpft hat, sicher nicht akzeptiert und seinen Kurs den neuen Realitäten angepasst. Eine neue Ostpolitik für die Zeitenwende sollte deshalb von den Erfolgen der Brandtschen Ostpolitik der 1970er Jahre und den Fehlern der vergangenen Jahre lernen – sie sollte realistisch und werteorientiert, wehrhaft und dialogbereit, europäisch und transatlantisch abgestimmt sein und auf die enge Einbindung der Zivilgesellschaften bauen.

Realität anerkennen

Mit Blick auf Russland brauchen wir mehr Realismus statt naives Wunschdenken. Russland ist eine imperialistische Macht, die unsere europäische Friedensordnung und regelbasierte Ordnung zerstören will. Putin will eine neue internationale Ordnung bauen, die ganz auf Zwang und Gewalt basiert, in der Großmächte über Einflusssphären verfügen, in denen sie schalten und walten können, wie sie wollen. Das widerspricht nicht nur unseren Ordnungsvorstellungen, sondern auch der UN-Charta, die Russland mit Füßen tritt. Deutschland hat jahrelang versucht, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten, um Frieden und Sicherheit in Europa zu wahren. Diese Politik, die auf Verständigung und wirtschaftlichen Austausch setzte, hat Russland nicht von seinem aggressiven Kurs abbringen können.

Fakt ist: Sicherheit kann es in Europa nur noch gegen, nicht mehr mit Russland geben. Wie Bundeskanzler Scholz richtig gesagt hat, kann es im Verhältnis zu Russland kein Zurück mehr geben in die Zeit vor dem Überfall auf die Ukraine.

Werte verteidigen

Viel zu lange haben wir aus dem vermeintlich übergeordneten Interesse, Frieden und Ausgleich mit Russland zu erreichen, die Souveränität und Freiheit anderer osteuropäischer Staaten relativiert und blind darauf vertraut, dass es so schlimm schon nicht kommen werde. Der Wunsch nach Stabilität um jeden Preis hat uns vergessen lassen, dass unsere Partner in Osteuropa diesen blutigen Preis am Ende bezahlen müssen.

Diejenigen, die nach Verhandlungen rufen, verkennen, dass Russland aktuell keinerlei Interesse daran hat. Ein Diktatfrieden würde weder Frieden noch nachhaltige Stabilität bringen, denn Russlands Imperialismus endet nicht im Donbass. Eine Welt, in der imperialistische Mächte Eroberungskriege gewinnen, wäre auch für uns lebensgefährlich. Denn Interessen und Werte sind kein Nullsummenspiel. Es ist auch unsere Freiheit und Sicherheit, es sind unsere europäischen Werte, die die Ukraine derzeit verteidigt – auch deshalb muss die Ukraine diesen Krieg gewinnen.

Wir müssen deshalb eine europäische Sicherheitsarchitektur gegen Russland errichten, die auf militärische Abschreckung sowie auf die politische und wirtschaftliche Isolation Russlands baut. Wir müssen so schnell wie möglich komplett unabhängig von russischer Energie werden. Die politische Isolation sollte auch über den Westen hinaus verfolgt werden, denn bislang hat eine Reihe von Staaten, die die Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren, den russischen Angriffskrieg nicht verurteilt. Dafür werden wir eine globale Allianz gegen Russland aufbauen müssen. Der Krieg in der Ukraine ist zwar ein europäischer, aber seine Konsequenzen trägt die ganze Welt.

Europäisch und transatlantisch verankert

Die neue Ostpolitik muss tief in der westlichen Allianz, der EU und der transatlantischen Partnerschaft verankert sein. Künftig kann es keinen deutschen Sonderweg mehr mit Russland geben, der zulasten unserer mittel- und osteuropäischen Partner geht. Eine gemeinsame europäische Ostpolitik muss die Sicherheitsinteressen von Polen und den baltischen Staaten, die sich ganz konkret von Russland bedroht fühlen, stets mitdenken. Die in Deutschland gerne mit unserer historischen Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg begründeten besonderen Beziehungen zu Russland wurden dort schon immer mit großem Unbehagen und Misstrauen gesehen. Selbstverständlich besteht diese historische Verantwortung angesichts von rund 27 Millionen Opfern des faschistischen Vernichtungskriegs in der damaligen Sowjetunion. Aber sie gilt eben nicht nur gegenüber Russland, sondern auch anderen früheren Sowjetrepubliken wie der Ukraine, Belarus und den baltischen Staaten. Vergessen wir nicht: Brandt ist in Warschau auf die Knie gegangen, nicht in Moskau - auch hier können wir von ihm lernen: weniger Moskau. Mehr Warschau, Riga, Vilnius und Tallinn. Unsere Politik gegenüber Osteuropa muss stets europäisch abgestimmt sein.

Dialogbereitschaft und Wehrhaftigkeit

Trotz der aggressiven Politik des Kremls hat Deutschland bis zuletzt versucht, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten. Dialog ist auch nicht per se falsch, denn wir brauchen offene Gesprächskanäle nach Moskau, um Transparenz zu ermöglichen, Missverständnisse auszuräumen und eine weitere militärische Eskalation zu vermeiden. Und es war ja Putin, der unsere offenen Türen des Dialogs zugeschlagen hat – nicht der Westen. Diese Tür muss nicht für alle Zeit verschlossen bleiben, aber ohne einen Waffenstillstand, ohne einen Rückzug aller russischen Truppen und ohne ein klares Bekenntnis Russlands zum Völkerrecht können sich unsere Beziehungen nicht wieder normalisieren.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir zu sehr aus dem Blick verloren, dass zur Dialogbereitschaft immer auch Wehrhaftigkeit und Abschreckung gehören. Wir müssen deshalb massiv in unsere Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung investieren. Die Schaffung des Sondervermögens für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro und die Stärkung der Nato-Ostflanke sind wegweisende Entscheidungen. Wir müssen leider wieder lernen, wie der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil richtig sagt, dass das Militär – neben Diplomatie, humanitärer Hilfe, Entwick- lungszusammenarbeit und ziviler Konfliktprävention – ein legitimes Mittel einer realistischen Friedenspolitik ist, die sich im Umfeld zu gewaltbereitem Autoritarismus bewegt.

Zivilgesellschaft einbinden

Die Zivilgesellschaften in Mittel- und Osteuropa waren ein entscheidender Faktor beim Umsturz der kommunistischen Diktaturen. Nicht nur in der Ukraine sehen wir tagtäglich, welche enorme Kraft die Zivilgesellschaften entwickeln können und wie sie erfolgreich Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung von politisch Verantwortlichen einzufordern vermögen. Wir dürfen Zivilgesellschaften nie mehr unterschätzen, sondern müssen sie aktiv einbinden. Eine neue europäische Ostpolitik sollte deshalb neben der Regierungsebene auch eine starke zivilgesellschaftliche Säule haben. Die russische Komponente sollte Kontakt zur russischen Zivilgesellschaft aufrechterhalten, Dissidenten im Exil schützen und in Sicherheit bringen. Die osteuropäische Komponente sollte die dortige Zivilgesellschaft stärken, da sie elementar für die Transformation dieser Länder ist, und zivilgesellschaftlichen Austausch innerhalb Europas fördern.

Wir leben in unfriedlichen Zeiten. Viele Menschen haben Angst vor einer weiteren Eskalation des Krieges, vor steigenden Energiekosten und vor einer drohenden Wirtschaftskrise. Jedoch dürfen wir nicht verzagen. Als Willy Brandt Anfang der 1960er Jahre den Grundstein für seine Ostpolitik legte, hatte die Welt gerade erst am Abgrund eines Nuklearkriegs gestanden, der Sowjetimperialismus schien unaufhaltsam, und Europa war geteilt. Trotz alledem ließ er sich nicht von seinem Glauben in die Widerstandsfähigkeit und Strahlkraft unserer freiheitlichen Demokratien abbringen. Selbstkritik und Selbstreflexion sind unerlässlich. Aber sie dürfen uns nicht lähmen. Eine neue Zeit verlangt den Mut für eine neue Ostpolitik. Vorwärts!