Wer zwischen zwei Stühlen sitzt, sitzt unbequem!

Die VR China versucht, im Ukrainekrieg eine „mittlere“ Position einzunehmen

von Susanne Weigelin-Schwiedrzik1

Am 12.Oktober 2022 fand in der UNO Generalversammlung eine Abstimmung über die Annexion der vier von Rußland teilweise besetzten Gebiete an der russisch-ukrainischen Grenze statt. 143 Länder haben der von den USA und Albanien eingebrachten Resolution zugestimmt, 35 Länder haben sich enthalten, und 5 Länder, darunter natürlich auch Russland, haben dagegen gestimmt. Die VR China hat sich- wie schon in früheren Abstimmungen- der Stimme enthalten. Wie kann das möglich sein, wo doch die VR China vom ersten Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine betont hat, dass man das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität aller in der UNO vertretenen Staaten für unverbrüchlich hält? Wäre diese Abstimmung nicht der Moment gewesen, da China die Bedeutung dieser ewig wiederholten Formulierung hätte deutlich machen und unter Beweis stellen können, dass es der Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine durch Russland nicht nur mit vagen Formulierungen, sondern in aller Deutlichkeit entgegentritt?

In einer Pressekonferenz des chinesischen Außenministeriums, die im Anschluss an die Abstimmung stattfand, so wird auf der chinesischen Webseite von BBC berichtet, hat ein Journalist genau diese Frage gestellt. Die Antwort des Sprechers der Außenministeriums lautet: „Wir haben seit jeher die Auffassung vertreten, dass die Souveränität und territoriale Integrität eines jeden Staates respektiert werden muss. Die Grundausrichtung und die Prinzipien, die in den UNO Statuten festgehalten sind, müssen ebenfalls eingehalten werden. Die legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder müssen berücksichtigt werden. Alle Bemühungen um eine friedliche Lösung der Krise müssen unterstützt werden. Als eine verantwortungsvolle Großmacht hat sich China stets um Friedensgespräche bemüht. Es krempelt nicht die Arme hoch und wartet den Gang der Dinge ab oder kippt Öl ins Feuer. Noch weniger hat China die Situation zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt.“

Die Antwort des Herrn aus dem Außenminister ist nicht klarer als die verschiedenen Statements, die wir seit dem ersten Tag des Krieges gehört haben und die in den USA und in den EU Ländern in der Regel so ausgelegt werden, dass sie Chinas Unterstützung für Russland zum Ausdruck bringen. Interessant ist, dass die Äußerung aus demselben sprachlichen Material gestrickt ist wie frühere Antworten, sich jedoch die Reihenfolge unterscheidet. Für Kenner der Materie ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass man sich die Stelle noch einmal genau anschauen muss. In der ersten Äußerung des Außenministeriums am 24.Februar 2022 stand nämlich an erster Stelle das Verständnis für die Vorgehensweise Russlands, die eine Reaktion auf die Ost-Erweiterung der NATO sei. Dieses Verständnis wird auch diesmal wieder zum Ausdruck gebracht, aber in gekürzter Form: Die NATO Osterweiterung wird nicht mehr erwähnt und dafür auf die legitimen Sicherheitsinteressen verwiesen. Dieser Satz stellt eine Unterstützung der russischen Position dar und steht diesmal hinter, nicht vor dem Satz, der zur Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität aufruft und damit die Ukraine unterstützt. Der letzte Satz erklärt dann endlich, was der eigentliche Grund für das Verhalten der chinesischen Regierung ist: In blumenreichen Worten unterstreicht man die „Mittelposition“, die China einnehmen möchte, und die verantwortungsvolle Haltung, aus der heraus man diese einnimmt. Das bedeutet im chinesischen Kontext: Wer eine „mittlere“ Position einnimmt, ist nicht neutral, er ist vielmehr aufgefordert, einen Drahtseilakt des Ausbalancierens zu meistern, in dem er beiden Seiten positive Signale aussendet, damit keine der beiden Seiten verletzt wird und beschließt, mit dem mittleren Dritten nicht mehr zu sprechen. Es bedeutet übrigens auch, dass man davon absieht, eine der beiden Seiten zu kritisieren, denn eine solche Kritik könnte den Anlass dafür bieten, im weiteren Verlauf Misstrauen zu entwickeln und seine Gesprächsbereitschaft zurückzuziehen. Diese Form der Diplomatie ist für Kenner der chinesischen Geschichte, die durch den permanenten Balanceakt zwischen unterschiedlichen Fraktionen an Hofe gekennzeichnet war, durchaus bekannt. Dass sie außerhalb Chinas eher auf Unverständnis stößt, hat freilich nicht nur mit Unkenntnis zu tun, sondern auch damit, dass derzeit eine mögliche Moderatorenfunktion Chinas in zukünftigen Verhandlungen über die Beendigung des Krieges weder von den USA noch von Russland gewünscht wird.

Stellt sich die Frage, warum China auf dieser Mittelposition beharrt. Viele Gründe sprechen dafür, sie einzunehmen: China hat 2013 einen Vertrag mit der Ukraine unterschrieben, der beinhaltet, dass die beiden Länder sich gegenseitig dabei unterstützen, die Souveränität und territoriale Integrität ihres jeweiligen Landes zu schützen. Für den Fall einer nuklearen Bedrohung hat China der Ukraine zugesichert, dem Procedere der UNO entsprechend Maßnahmen zu ergreifen. Die Ukraine ist der wichtigste Partner Chinas in der Belt and Road Initiative2, und es gibt eine intensive Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und chinesischen Ingenieuren bei der Entwicklung von militärischen Kapazitäten in China. So hat haben ukrainische Techniker die Entwicklung eines Großraumtransportflugzeuges durch China unterstützt und sich an der Modernisierung des ersten Flugzeugträgers beteiligt, den China 1998 der Ukraine abkaufte. Auf der anderen Seite verbindet Russland und China eine strategische Partnerschaft, die insbesondere von Xi Jinping immer wieder gefeiert wird und die er zuletzt bei Putins Besuch aus Anlass der Eröffnung der olympischen Spiele vor aller Welt zur Schau gestellt hat, als man kurz vor Ausbruch des Krieg sind er Ukraine 15 Verträge unterschrieb. Russland ist Partner in der BRI, wobei sich das chinesische Handelsvolumen seit 2017 um 75% auf 147 Milliarden Euro erhöht hat. Dass dabei eine gewisse Asymmetrie zu beoachten ist, zeigt, dass sich russische Exporte nach China im Jahr 2020 lediglich auf 46,5 Milliarden Euro beliefen. Doch politisch ziehen Russland und China in vielen Bereichen an einem Strang: Beide Länder vertreten zunehmend offensiver die Auffassung, dass die augenblickliche internationale Ordnung einer Umgestaltung bedarf. In diesem Sinne gibt es eine intensive Zusammenarbeit beim Aufbau alternativer multilateraler Strukturen wie z.B. der Shanghai Cooperation Organization (SCO). Ähnlich wie die Türkei rekurriert China auf gute Beziehungen zu beiden Seiten, die man offensichtlich braucht, will man ein Gespräch zustande bringen.

Hinzu kommt, dass die KPCh ungern politische Entscheidungen fällt, die einen schlechten Eindruck über die analytischen Fähigkeiten der Partei vermitteln. Die Partei führt alles und muss deshalb auch immer recht haben. Stellte man sich auf die Seite Russlands und erwiese sich Russland als Verlierer, sähe das für die KPCh und ihre Urteilsvermögen sehr schlecht aus. Kein Wunder, dass wir in den letzten Tagen sehr viel Besorgnis aus Peking wahrnehmen, dass die militärische Kapazität Russlands unter dem Ansturm der Ukraine zusammenbrechen oder sogar die innere Lage in Russland außer Kontrolle geraten könnte.

Schließlich haben wir erst kürzlich beobachten können, dass die Führungsspitze der KPCh sich nicht einig ist, wie man sich verhalten soll. Der dritte Mann im Staate, Herr Li Zhanshu, reiste nach Moskau und sprach dort hinter verschlossenen Türen mit Mitgliedern der Duma. Was er sich vielleicht nicht vorgestellt hatte: Der Inhalt seiner Ausführungen wurde aufgenommen und geleakt. Dadurch wurde deutlich, dass er den russischen Abgeordneten gegenüber das uneingeschränkte Verständnis Chinas für die russische Vorgangsweise gegen die Ukraine zum Ausdruck brachte und angekündigte, man sei bereit, sich mit Russland fürderhin zu koordinieren. Zu dem Zeitpunkt, als diese eindeutig pro-russischen Äußerungen der Öffentlichkeit bekannt wurden, befand sich der Generalsekretär der Partei, der inzwischen auf dem 20. Parteitag wiedergewählt wurde, in Samarkand auf der Sitzung der Staatsoberhäupter der SCO Mitgliedsstaaten. Xi Jinping musste die Zusammenkunft vorzeitig verlassen und wurde danach 10 Tage nicht mehr gesehen, wie übrigens auch Herr Li Zhanshu nach seiner Rückkehr aus Moskau. In dieser Situation sind sogar Putschgerüchte entstanden, die sich jedoch bald als gegenstandslos erwiesen. Aber Streit hat es wohl doch gegeben, denn Herr Li hatte etwas ausgesprochen, was er nicht hätte aussprechen dürfen.

Das konnte man deutlich erkennen, als Außenminister Wang Yi wenig später eine Rede vor der UNO hielt und in dieser Rede nur von Friedensbemühungen gesprochen wurde. Russland und sein Anliegen wurden mit keinem Satz erwähnt. Damit hat der Außenminister die von Li Zhanshu abweichende Meinung in aller Öffentlichkeit erklärt und ist im Gegenzug zu Li Zhanshu ein stückweit hinter dem Vorhang hervorgetreten. Die Kräfte innerhalb der damaligen KP-Führungsspitze, die anders denken als Herr Li Zhanshu, bestehen auf dem gefundenen Kompromiss: Sie wollen China eine Position in der Mitte zuschreiben, also nicht einfach daneben stehen und zuschauen, was kommt, auch nicht Öl ins Feuer schütten und schon gar nicht einen eigenen Vorteil aus der Lage herausschlagen. Als Li Zhanshu diesen Kompromiss in seinen Gesprächen mit der Duma nicht einhielt, wurde wohl vermutet, dass Xi Jinping ihm dazu grünes Licht gegeben hatte. Nach chinesischem Usus darf aber auch der Parteivorsitzende nicht von einem einmal gefundenen Kompromiss abweichen. Deshalb musste er so schnell nach Hause zurückfliegen. Inzwischen sind die Russland skeptischen Kräfte durch die Neuwahl der Leitungsgremien der KPCh auf dem 20.Parteitag deutlich geschwächt worden Es bleibt abzuwarten, wie sich das auf die Positionierung der VR China im Ukraine-Konflikt auswirken wird.

Bisher hat die Führung der VR China sich in der Öffentlichkeit in Sachen Friedensvermittlung meist bedeckt gehalten. Der Grund dafür ist, dass man auf eine Gelegenheit wartet, sich erfolgreich einzuschalten. Bisher, so offenbar die Einschätzung der chinesischen Seite, ist die Zeit noch nicht reif. Der Leidensdruck muss noch zunehmen. Drei Szenarien sind da möglich: Aus dem Vietnamkrieg und aus der Situation in Afghanistan wissen wir, dass auch der eigentlich Stärkere in einem asymmetrischen Krieg so in Bedrängnis geraten kann, dass er Verhandlungen sucht, bevor es zu spät ist. Diese Situation ist allen Problemen Russlands zum Trotz noch nicht eingetreten, obwohl in den letzten Tagen aus Moskau immer wieder Äußerungen zur Notwendigkeit von Verhandlungen zu hören sind. Hauptgrund ist, dass die ukrainische Seite derzeit nicht verhandlungsbereit ist und auch die USA den Krieg wohl noch so lange führen wollen, wie – Verteidigungsminister Austin hat das ja sehr deutlich ausgesprochen – es notwendig ist, um Russland so zu schwächen, dass es auf die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre hin nicht wieder einen Krieg in seiner Nachbarschaft führen kann.

Das zweite Szenario sieht einen Abnutzungskrieg vor. Den kennen wir gut aus den Zeiten des Koreakriegs. Er ist für die Soldaten beider Seiten und auch für die Zivilbevölkerung ein schreckliches Los, und obwohl man ihn aus diesem Grunde vermeiden sollte, gibt es viele historische Beispiele, die zeigen, dass erst die Abnutzung und Ermüdung beider Seiten eines Tages zur Gesprächsbereitschaft führt.

Bleibt ein drittes Szenario, über das in China allerdings nicht offen gesprochen wird, das aber bestimmt in den Diskussionen eine Rolle spielt. Es sieht die Möglichkeit vor, dass die Menschen im reichen Westen wie im globalen Süden auf Grund von Inflation und Energieknappheit früher oder später auf die Straße gehen und es zu einer erheblichen Destabilisierung der Verhältnisse kommt. In dieser Situation würden nicht die unmittelbar am Krieg beteiligten Parteien nach Verhandlungen rufen, sondern die nur mittelbar Beteiligten würden darum „betteln“, dass der Krieg beendet wird, damit man die gesellschaftliche Lage wieder stabilisieren kann.

Egal, welches Szenario eintritt oder welche weiteren Szenarien erdacht werden können: China weiß, dass es sein Pulver nicht verschießen darf. Es sondiert hinter den Kulissen, es wägt vorsichtig seine Worte, aber es macht keinen entscheidenden Schritt an den Bühnenrand. Denn letztendlich geht es doch darum, aus der Situation einen eigenen Nutzen zu ziehen: Würde China sich erfolgreich in die Verhandlungen einbringen, hätte es seine Position als verantwortungsvolle Großmacht gestärkt und sich auf der Weltbühne gut aufgestellt.

1Em. Professorin für Sinologie an der Universität Wien und Programmdirektorin für China im Centrum für strategische Analyse (csa), Wien, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der VR China, Innen- und Außenpolitik der VR China, Geschichte Ostasiens im 19. und 20.Jahrhundert

2 2013 schlug China die Belt and Road Initiative (BRI) vor, die weltweite Investitionen in den Aufbau von Infrastruktur zur Verbesserung von Kommunikation und Konnektivität vorsieht. In Deutschland ist dieses Konzept vereinfacht unter dem Begriff „Neue Seidenstraße“ bekannt.