Wladimir der schreckliche – Historiker

Zu Putins imperialen Absichten

von Susanne Schattenberg1

Die fast 45minütige Rede, die der russische Präsident Waldimir Putin im Georgssaal des Kremls anlässlich der völkerrechtswidrigen Annexion von vier ukrainischen Regionen – Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk – am 30. September 2022 hielt, ließ an einer Stelle aufhorchen. Eine Wiederherstellung der Sowjetunion strebe er nicht an, erklärte Putin; sie sei Geschichte und Russland brauche sie nicht mehr. Was braucht Russland dann, möchte man fragen, vor allem aber: Was strebt Putin dann an?

Seit der russische Präsident 2005 erklärte, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, stand genau dieser Verdacht im Raum, dass er sich die Wiederherstellung des Imperiums wünsche. Allerdings waren Expert*innen wie Politiker*innen im Westen lange Zeit davon ausgegangen, dass dies sein „Utopia“ sei, ein theoretischer Traum, den er niemals in die Praxis umsetzen würde. Selbst die Annexion der Krim und der inszenierte Bürgerkrieg im Donbass 2014 ließen die meisten glauben, Putin verfolge eine Politik der Nadelstiche und Frozen Conflicts, mit denen er Staaten destabilisieren, sie sich aber nicht einverleiben wolle. Diese Einschätzungen beruhten auf der Annahme, dass Putin bei einer Kosten-Nutzen-Kalkulation die Risiken (internationale Isolation, Aufbegehren seiner kriegsabgeneigten Bevölkerung) und Kosten (erst für das Militär, dann für den Unterhalt der annektierten Gebiete) stets als zu groß einschätzen würde. Dass sich die Russland-Kenner*innen im Westen geirrt haben und die Warner*innen in Ostmitteleuropa Recht hatten, hat der 24. Februar gezeigt.

 

Von pseudohistorischen Schriften…

Die pseudohistorischen Schriften, die Putin inzwischen verfasst hatte, hätten ebenso wie die Konflikte Anlass zu tiefer Besorgnis geben müssen. Es war ein Fehler, nur seine geopolitischen Aggressionen zu analysieren, seine historisch verbrämten Pamphlete aber außer acht zu lassen. Der Grund dafür lag vermutlich darin, dass sie so wirr, absurd und letztlich in ihren Konsequenzen so unklar waren, dass sie offenbar eher von Wissenschaftler*innen als von Politiker*innen gelesen wurden. Den ersten solchen Text hatte Waldimir Putin bereits im Juni 2020 zum Hitler-Stalin-Pakt verfasst. Dass er durchaus ein großes Sendungsbewusstsein hat und seine Interpretation des Wegs in den Zweiten Weltkrieg für bahnbrechend hielt, zeigt sich daran, dass die russische Botschaft seinen Text auch an alle Osteuropa-Expert*innen an deutschen Universitäten verschickte. Putin reagierte mit seinem Text auf eine Resolution des Europa-Parlaments, das im September 2019 tatsächlich Sowjetrussland die gleiche Schuld am Zweiten Weltkrieg wie Nazi-Deutschland zugewiesen hatte. Putin konterte, dass der eigentliche Schritt in den Zweiten Weltkrieg nicht das Abkommen zwischen Stalin und Hitler gewesen wäre, sondern die Zerschlagung der Tschechoslowakei, die 1938 England und Frankreich in München abgesegnet hätten. Dabei wies er Polen eine erhebliche Mitschuld am Krieg zu, das sich ebenfalls tschechoslowakische Territorien einverleibt hätte. War diese Schrift und der dahinterstehende Ärger zumindest in Teilen nachvollziehbar, da der Kriegstreiber eindeutig Hitler gewesen war, wurde die Schrift „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ im Sommer 2021 nur mit Kopfschütteln begegnet. Hatte Putin 2020 tatsächlich noch Archivdokumente zitiert, verzichtete er in seinem zweiten Pamphlet vollkommen auf die Belegung seiner historisch unhaltbaren Thesen, dass Russen und Ukrainer stets ein Volk gewesen seien, aber nach der Revolution Lenin den „Kleinrussen“ leichtsinniger Weise eine eigene Sowjetrepublik genehmigt habe, die dann Gorbatschow fataler Weise 1991 in die Unabhängigkeit entlassen hätte. Obwohl keinerlei Handlungsankündigungen in dieser Schrift enthalten waren, machte sie sehr deutlich, dass Putin der Ukraine jegliches Recht auf Eigenstaatlichkeit, Souveränität und Selbstbestimmung, eine eigene Kultur, Sprache, Geschichte und Religion abspricht. Es war noch keine Kriegserklärung, wohl aber bereits eine Kriegsbegründung.

Nach dem 24. Februar war und ist daher die Angst groß, Putin könnte weitere solche Pamphlete schreiben und auf gleiche Weise sämtlichen früheren Sowjetrepubliken vom Baltikum über den Kaukasus bis nach Zentralasien das Recht auf Selbstbestimmung, einen eigenen Staat und eine eigene Kultur absprechen. Das nächste Objekt wäre zweifellos Belarus, das sich de facto bereits unter Putins Macht befindet, ihm als Aufmarschgebiet für seine Angriffstruppen dienen musste, derzeit ein Bataillon auf seinen Geheiß aktiviert hat und dessen Machthaber Lukaschenka sich ohne Putin schon längst nicht mehr halten könnte. Auf Belarus würde zweifellos Moldawien folgten, um das die Zaren, als es noch Bessarabien hieß, mehrere Kriege mit dem Osmanischen Reich führten und das Stalin als Beute aus dem Zweiten Weltkrieg behielt, was Putin als Vorwand dienen könnte, auch diese rumänisch-sprachige Bevölkerung zu „Ur-Russen“ zu erklären.

 

zu totalitärer Propaganda?

Doch nun hat er behauptet, weder er noch Russland wollten die Sowjetunion zurück. Er tat das in einer Rede, die anders als die Kriegserklärung am 24. Februar, die Rede zum 9. Mai oder anlässlich der Mobilmachung am 21. September außergewöhnlich ausführlich seine Kriegsvorwände darlegt und damit als drittes Putin’sches pseudohistorisches Pamphlet gelten kann. Zwei Dinge fallen darin auf: erstens die vollkommene Geschichtsverdrehung: Nach einer Neuinterpretation von Archivquellen 2020 und der Revision der russisch-ukrainischen Chronik 2021 versucht er sich jetzt an einer Neuschreibung der globalen Geschichte, in der er weder auf Quellen noch auch konkrete Fakten Bezug nimmt. Dabei sticht zweitens heraus, dass er mit seiner Pseudogeschichtserzählung eine Propaganda betreibt, wie Hannah Ahrendt sie als typisch für totalitäre Herrscher dargestellt hat: Alles, was sie selbst an Verbrechen planen oder bereits begangen haben, schreiben sie dem Gegner zu. Typisch für eine solche Propaganda ist laut Arendt auch, dass sie von allen Fakten losgekoppelt wird, damit sie sich nicht mehr überprüfen lässt. So gibt es jetzt zwei Geschichten zum Ende des Kalten Krieges: die allgemein anerkannte, dass beide Supermächte 1987 überein kamen, das Wettrüsten zu beenden, und die Sowjetunion 1991 auseinanderbrach, weil der Zentralstaat für die Republiken weder Sicherheit, noch Wohlstand oder Freiheit gewährleisten konnte. 2014 annektierte Russland die Krim und fiel im Donbass ein, 2022 erfolgte der russische Überfall auf die gesamte Ukraine. Bei Putin liest es sich dagegen so: Der Westen durchlebte in den 1980er Jahren eine Wirtschaftskrise, weshalb er beschloss, sich die Reichtümer der Sowjetunion einzuverleiben, und sie 1991 erfolgreich zerschlug. 2014 organisierte er einen Putsch in der Ukraine, verhalf einem „neonazistischen Regime“ an die Macht, das im Donbass einen Völkermord anrichtete, überall Russlandhass säte und kurz davorstand, Russland zu überfallen. In Putins Worten ist es das „Regime in Kiew“, das 2014 einen Krieg entfesselte. Aus der Geschichte des Zusammenbruchs der Sowjetunion, die ursprünglich auch in Russland, als Befreiungsgeschichte und Aufbruch erzählt wurde, macht Putin eine Geschichte des Untergangs, für den es nur einen Schuldigen gibt: „den Westen“, wobei er unterschiedslos „Westen“, „Angelsachsen“ und „USA und NATO“ verwendet. Bei Putin ist es der Westen, „der den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen mit Füßen getreten hat“, der mit Atomwaffen droht, mit den Atombomben-Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki 1945 überhaupt als einzige Macht jemals diese schreckliche Waffe einsetzte und der im Zweiten Weltkrieg „ohne militärische Notwendigkeit“ zahlreiche deutsche Städte in Schutt und Asche legte. Ganz offensichtlich will er damit von seinen eigenen wiederholten Drohungen mit Atomwaffen sowie von der Zerstörung von Mariupol, Charkiv und anderen Städten, dem Massaker von Butscha und andernorts sowie dem gezielten Beschuss von Zivilgebäuden ablenken. Bei Putin zerstören die USA und die NATO die Souveränität aller Staaten, benutzen eine aggressive Propaganda, haben die Nord Stream Pipelines in die Luft gejagt und verantworten humanitäre Katastrophen, indem sie das Getreide der Ukraine nicht nach Afrika, sondern nach Europa lieferten. Damit schreibt er exakt seine Handlungen „dem Westen“ zu. Während das Feindbild „des Westens“ zweifellos an sowjetische Narrative anknüpft, ist die Umkehr von Opfer und Täter bzw. Aggressor und Verteidiger ein typisch Putin’sches Verfahren.

 

Von der Kolonialmacht…

Darüber hinaus bezichtigt Putin nach sowjetischer Manier „den Westen“, die Weltherrschaft anzustreben und die gesamte Welt zu kolonialisieren. Auch Deutschland sei in Wahrheit noch von den USA besetzt. Neu gegenüber dem früheren sowjetischen Supermacht-Diskurs ist aber, dass Putin Russland als Opfer und letzten Rebellen darstellt: Die ganze Welt sei von den USA kolonialisiert und nur Russland sei eins der wenigen Länder, das noch erfolgreich Widerstand leiste: „Ich möchte noch einmal betonen, dass der wahre Grund für den hybriden Krieg, den der ‚kollektive Westenʼ gegen Russland führt, Gier und die Absicht ist, seine uneingeschränkte Macht zu erhalten. Sie wollen nicht, dass wir frei sind, sie wollen uns als Kolonie sehen. (…) Sie wollen uns nicht als eine freie Gesellschaft sehen, sondern als einen Haufen seelenloser Sklaven.“ Erschreckend ist, das auch diese Rhetorik von der Weltherrschaft von Hannah Ahrendt als typisch für totalitäre Herrscher beschrieben wird: Sie streben sie selbst an, werfen sie aber ihren Gegnern vor: Hitler den Juden, Stalin mal den Imperialisten, mal den Bauern, mal den Volksverrätern. Typisch ist auch, dass als Motiv Geldgier genannt wird. Bei Putin klingt das so: „Der Westen ist bereit, alles zu tun, um dieses neokoloniale System aufrecht zu erhalten, da es ihm erlaubt, die Welt im Namen der Macht des Dollars und des technologischen Diktats parasitär auszupressen, einen regelrechten Tribut von der Menschheit einzufordern und als Haupteinnahmequelle seines unverdienten Wohlstands einzutreiben, (…).“

Aufschlussreich ist, dass Putin den Kolonialismus allein „dem Westen“ zuschreibt und die Kolonialpolitik sowohl des Zarenreichs als auch der Sowjetunion verschweigt. Zum einen gelten ihm die Annexionen all der nicht-russischen Gebiete vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert nicht als koloniale Unterwerfung, sondern offenbar als das traditionell so bezeichnete „Sammeln russischer Erde“. Zum anderen ist nach dieser Lesart auch die Unterwerfung dieser Gebiete und Staaten, die nach 1917 die Unabhängigkeit erlangt hatten, kein Gewaltakt, sondern eine „Wiedervereinigung“ gewesen. Putin steht hier in einer Tradition mit sowjetischen Führern im 20. Jahrhundert, die sich in Afrika, Südamerika und Südostasien dafür rühmten, nie Kolonialmacht gewesen zu sein. Nach ihrem Verständnis waren die Russland bzw. der Sowjetunion einverleibten europäischen und asiatischen Territorien nicht unterworfen, sondern integraler Bestandteil des eigenen Reichs.

 

zur Weltherrschaft?

Wenn Putin tatsächlich einfach die Fakten umdreht und alles, was er selbst getan hat oder beabsichtigt, seinen Gegnern zuschreibt, strebt er dann die Weltherrschaft an? Soweit soll hier nicht gegangen werden, auch wenn er in zahlreichen Äußerungen deutlich artikuliert hat, dass er die Stellung der Sowjetunion als Weltmacht schmerzlich vermisst. Was aber aufhorchen lässt, ist, dass er der USA und der NATO vorwirft: „Sie haben es auf alle abgesehen, auch auf unsere engsten Nachbarn, die GUS-Staaten.“ Dies ist ein sehr deutliches Signal, dass er sich das Eingreifen in allen GUS-Staaten, derzeit immer noch neun Staaten von Belarus und Moldawien über Armenien und Aserbaidschan im Kaukasus bis hin zu den zentralasiatischen Republiken Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan, vorbehält. Er mag also bestreiten, dass er die Sowjetunion wiederherstellen möchte, aber er lässt anklingen, dass er all diese Länder gegebenenfalls vor der „Kolonialisierung durch den Westen“ bewahren, sprich: Russland einverleiben würde. Er lässt damit bewusst offen, ob er nicht doch eine Wiederherstellung der Sowjetunion anstrebt oder aber beabsichtigt, diese Länder Russland direkt, also ohne Autonomierechte und eigene Verfasstheit, Russland als neuem Super-Staat einzuverleiben.

Das einzige, was beruhigt, ist die Tatsache, dass ihm derzeit und absehbar nicht die Armeen und Mittel für solche großflächigen Annexionen zur Verfügung stehen, ja fraglich ist, ob er nicht in absehbarer Zeit auch die vier ukrainischen Territorien samt Krim wieder wird hergeben müssen. Es beruhigt auch, dass die Propaganda-Reden Putins in dem Maße, wie sie die Fakten verdrehen und die Wahrheit auf den Kopf stellen, immer weniger anschlussfähig und glaubhaft auch für die eigene Bevölkerung werden. Denn auch das lehrt Hannah Ahrendt: Totalitäre Propaganda wirkt nur dann, wenn sie auf Mythen und Verschwörungstheorien aufbaut, die in der Bevölkerungsmasse vorhanden sind und von dieser getragen werden. Viel zu viele Russinnen und Russen haben aber „den Westen“ durchaus anders als als Kolonialmacht kennengelernt: Die Vorzüge von einem Leben in einer offenen, freizügigen Gesellschaft verbinden sie mit der Zeit nach 1991, während es noch genug Menschen älterer Generationen gibt, die sich an die Unfreiheit vor 1991 erinnern und in Putins Reden die Muster der sowjetischen Propagandamythen wiedererkennen mögen.

Putin würde offenbar gern wie einst im 16. Jahrhundert der Zar Iwan der IV., genannt „der Schreckliche“, als derjenige gelten, der die „russischen“ Länder „wieder vereinigte“. Momentan ist er nur ein „schrecklicher Historiker“, der versucht, mit totalitärer Propaganda seine eigene Bevölkerung unter Kontrolle zu halten und „den Westen“ in Angst und Schrecken zu versetzen.

 

1 Susanne Schattenberg ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa sowie Professorin für Zeitgeschichte und Kultur an der Universität Bremen. Zuletzt erschienen von ihr Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins im Böhlau-Verlag 2017 sowie Geschichte der Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zum Untergang in der Reihe Becks Wissen im C.H. Beck Verlag 2022.