Für einen dauerhaften Frieden in Osteuropa

Von Stephan Hilsberg

29. Oktober 2022

Vorbemerkung:

Ich habe diesen politischen Text auf ausdrückliche Bitte meines Freundes Christian Booss geschrieben. Dafür habe ich meine eigenen Überlegungen in Worte versucht zu fassen, wohl wissend, dass sie unzulänglich sind. Als Angebot zum Diskurs, meinen Beitrag zum nimmer endenden Prozess der Aufklärung mögen sie durchgehen.

Dieser Text erfüllt ausdrücklich keine wissenschaftlichen Standards. Das gilt insbesondere für Zitate und Quellen. Mir ist bewusst, dass ich in Sachen narrativer Geschichtserklärung wahrscheinlich sogar kreativ bin, und dass vielleicht nicht alles Bestand haben wird, was ich hier aufgeschrieben habe. Doch so ist die Welt. Mein Risiko.

Und inhaltlich muss gesagt werden, dass das hier aufgeworfene Lösungsszenario ein ganzes Bündel von Ansätzen enthält, die miteinander verbunden sind. Es geht hier nicht um eine politische Strategie. Sie kann vielleicht im Zuge des Diskurses entworfen werden.

Daschitschew

Wer auf der Suche nach einer Lösung für den Ukraine-Krieg ist, der kann bei der Lektüre eines der Vordenker von Glasnost und Perestroika fündig werden.

Es war Wjatscheslaw Daschitschew, ein russischer Intellektueller, Historiker und Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, der schon in den 70er Jahren der damaligen Sowjetunion einen Weg zu Frieden und Wohlstand wies.

Glasklar hatte er nachgewiesen, dass der bolschewistische Weg, insbesondere in seiner stalinistischen Variante einer aggressiven, anmaßenden, überheblichen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten missachtenden Außenpolitik, unmittelbar in den Kalten Krieg und in eine letztlich selbstverursachte Isolation geführt hatte. Und dies wiederum sperrte sie von der internationalen, technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung aus, mit verhängnisvollen Folgen für die eigene Wirtschaft, die, gemessen am internationalen Standard, immer rückständiger wurde. Schlimmer noch, aber eine unmittelbare Folge davon war der stagnierende, ja fallenden Lebensstandard der Bevölkerung, die ja gleichzeitig noch den ins Unermessliche gesteigerten sowjetischen Militärhaushalt schultern musste.

Daschitschews Lösung für dieses existentielle Problem der Sowjetunion bestand in der Empfehlung, die internationale Isolation der SU zu überwinden, also die Konfrontationspolitik des Kalten Krieges zu beenden, und statt dessen auf eine Politik von Partnerschaft und Kooperation einzuschwenken . Und so empfahl er seinen KPdSU Generalsekretären, denn für diese waren seine bis heute lesenswerten Expertisen bestimmt, die Politik der militärischen Gewalt und der Androhung von Gewalt, insbesondere der atomaren Bedrohung zu beenden, und damit den Kalten Krieg selbst; nicht nur um dessen gewaltigen Kosten zu senken, sondern vor allem um wieder teilzuhaben an der internationalen wirtschaftlichen, technologischen, kulturellen Entwicklung, mit deren Hilfe das eigene Land wieder aufgebaut werden könne.

Ich selbst habe Daschitschews Texte erst in den letzten 10 Jahren studiert. Das, aber vor allem die Tatsache, dass ich ihn überhaupt studiert habe, hat verschiedene Gründe. Aber ich weiß noch, wie verblüfft ich war, faktisch die Blaupause für die Politik von Sergej Gorbatschow, der ja genau diesen Weg gegangen ist, entdeckt zu haben. Mit bestechender Logik und einer gründlichen Analyse, war Daschitschew den Problemen des eigenen Landes radikal auf den Grund gegangen, und machte hier seinen eigenen führenden Leuten klar, dass es die SU selbst war, die sich aktiv und selbstverschuldet in ihre existentielle Notlage geführt hatte, und dass nur der Weg der radikalen Umkehr zu einer Besserung auch ihrer innenpolitischen Lage führen würde.

Clausewitz

Daschitschew, der im 2. Weltkrieg als Offizier in der Roten Armee gekämpft hatte, verdiente sich später seine Meriten als Historiker mit einem Buch über die Ursachen der Niederlage von Hitlerdeutschland, in dem er sich zur Erklärung von Hitlers Untergang auf eine Theorie des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz berief. Dieser hatte nämlich einst nachgewiesen, dass es in Europa keiner Macht dauerhaft gelingen könne, den übrigen Staaten einen Hegemonialanspruch aufzuzwingen, weil dies automatisch zu Koalitionen der betroffenen europäischen Nachbarstaaten führen würde, und zwar Koalitionen über die größten Unterschiede der Koalitionäre hinweg, einzig um sich des Hegemonialanspruchs des Einen erwehren zu können. Vielleicht nicht von langer Dauer, vielleicht auch nur für den Moment, aber immer erfolgreich und immer verhindernd, dass es jemals in Europa eine Macht geschafft hatte, seine europäischen Nachbarländer dauerhaft zu beherrschen. In Europa, so Clausewitz, ist es also schon theoretisch gar nicht möglich, dass eine Macht sich über die anderen erheben kann, soviel das auch immer versucht wurde. All diese Versuche sind gescheitert, so ist Napoleon gescheitert, und so ist auch Hitler gescheitert. Und so, laut Daschitschew, würde auch die stalinistische Epoche der Sowjetunion, die ja Stalin weit überdauert hat, scheitern. In der Tat, die Parallelen sind verblüffend - bis heute.

Zwar wurde der Kalte Krieg wegen der horrenden atomaren Gefahren nicht auf dem offenen Feld ausgetragen, aber er wurde ausgetragen, und zwar auf wirtschaftlichen, technologischen, wissenschaftlichen und politischem Gebiet. Gegen die Stalin’sche Sowjetunion, die allen Ländern ihres Einflussbereiches in Mittel- und Osteuropa ihr eigenes stalinistisches System aufgezwungen hatte, und jederzeit bereit war, es militärisch zu sichern, die Westeuropa versuchte zu unterwandern, schlossen sich fast das gesamte Westeuropa mit den USA zusammen. Sie betrieben gegen die SU nicht nur eine Politik der militärischen Abschreckung, sondern auch der politischen und wirtschaftlichen Abschottung. Da gleichzeitig in den Ländern des Westens dem 2. Weltkrieg das wirtschaftliche Wachstum schier explodierte, der Lebensstandard der Bevölkerung bis dato kaum für möglich gehaltene Höhen erreichte, da die westlichen Gesellschaften in sozialer Hinsicht immer durchlässiger wurden, während im Osten die Menschen unterdrückt wurden, nahm die Attraktivität des Westens permanent zu.

Wirtschaftliche Erosion

Sicher, es gelang der Sowjetunion viele Jahrzehnte lang das atomare Bedrohungsszenario, dem sie ihre politische Bedeutung verdankte, das aber im Horror einer verstrahlten Welt und dem Verlust der menschlichen Existenzgrundlage gipfelte, aufrecht zu erhalten. Aber um welchen Preis? Und dabei ist hier der stalinistische Terror als Herrschaftsform noch nicht einmal thematisiert.

Gorbatschow selbst nannte sein Land marode und zwar noch maroder als seine Satellitenstaaten. Vielen unserer Zeitgenossen erscheint es möglicherweise unvorstellbar: Auch die größten und mächtigsten Reiche können untergehen. In der Regel erkranken sie an selbstverschuldeten Krisen. In der alten SU war es der Militärhaushalt, der zum Schluss wohl ein Viertel des Bruttosozialprodukts verschlang und der dennoch mit dem westlichen Output nicht mithalten konnte. Die SU konnte die Kosten ihres Hegemonialanspruchs nicht mehr schultern. Die atomare Großmacht war wirtschaftlich gesehen ein Entwicklungsland. Der Abstand zum Westen nahm permanent zu, den Wettlauf mit ihm hatte sie schon lange verloren. Das Land, das für sich in Anspruch nahm, an der Spitze unserer Zivilisationsentwicklung zu stehen, stand kurz vor dem Bankrott, ihm drohte der Zusammenbruch.

Das mag in der damaligen Sowjetunion nicht jeder so gesehen haben. Wer schaut schon gerne in den eigenen Abgrund? Die sozialen Schichten, die diesem Staat ihre Privilegien verdankten, diejenigen, die die Macht ausübten, diejenigen, die sich vom Terror nährten, sicher nicht. Und vielleicht wäre der alte stalinistische Stiefel noch ein paar Schritte weiter getreten, vielleicht hätte die alte, stalinistische SU noch ein Jahrzehnt überlebt. Aber wahrscheinlich auch nicht länger.

Russisches Szenario - Punkt 1

Genau dieses Untergangsszenario droht dem Putin’schen Russland jetzt.

Der KGB gehörte in der Regierungszeit Gorbatschows zu denen, die seine Bemühungen, die SU auf eine demokratische Grundlage zu stellen, ablehnten; der KGB war beim Putsch gegen Gorbatschow im Sommer 1991 nicht nur dabei, er war einer seiner treibenden Kräfte. Doch der Putsch scheiterte. Die russische, insbesondere die Moskauer Bevölkerung verteidigte Glasnost und Perestroika. Gorbatschow selbst aber war danach politisch tot. Dieses Ziel hatten die Putschisten immerhin erreicht.

Gorbatschows Nachfolger im Kreml wurde Boris Jelzin. Und der hatte keinen Plan. Die z.T. hanebüchenen Zustände in der alten Sowjetunion nahmen immer chaotischere Formen an. Zwar gab es demokratische Ansätze, aber es gab nichts zu kaufen, und kein Geld. Der Staat war bankrott.

Irgendjemand hat Putin dann an Jelzin vermittelt. Und damit übernahm der KGB nach dem kurzen Intermezzo von Juri Andropow Anfang der 80er Jahre erneut die Macht im Kreml, diesmal mehr als 2 Jahrzehnte bis in unsere Tage. Mit ihm nisteten sich sukzessive jene im Kreml ein, für die die Gorbatschow’sche Politik von Glasnost und Perestroika nicht nur ein Fehler, sondern schlicht unnötig war, ja die Quelle des russischen Unglücks. Ignoranz bestraft sich selbst, Staatsignoranz das Volk. Die Russen büßen dafür.

Und sie büßen noch mehr, seit Putin die Ukraine überfallen hat. Der Westen reagierte, wie zu erwarten und kommuniziert worden war. Im Westen konnte man auf die Gegenwehrerfahrungen des Kalten Krieges, auf Eindämmungs- (Containment) und Embargopolitik, zurückgreifen. Zwar brauchte der Westen einen langen Atem, dafür und er musste sich ständig seiner selbst vergewissern. Am Ende hatte er Erfolg damit. So wird es auch diesmal kommen. Richtig so.

Jetzt hat Putin die gleiche Krise, das gleiche Untergangsszenario am Hals, wie einst die SU in ihrer Endphase. Und wenn der Westen seine Politik durchhält, und dazu hat er keine Alternative, dann wird Russland sich bewegen, bewegen müssen.

Völkerrecht und Demokratie - Punkt 2

Gorbatschow hatte nicht nur Berater vom Schlage Daschitschews. Sein strategisches Konzept stand schon, als er die Macht im Kreml übernahm. Es nährte sich von den Hoffnungen auf einen anderen Sozialismus. Er war befreundet mit Alexander Dubcek, schreibt Swetlana Alexejewitsch in ihrem Buch „Secondhand Zeit“. Nach ihren Worten haben sich beide gegenseitig in die Hand versprochen, dass, sollte dereinst das Schicksal ihnen die Gunst der politischen Gestaltungsfähigkeit zuspielen, sie dafür sorgen würden, dass Gräueltaten wie die von Stalin nie wieder vorkommen: ein Versprechen für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Gorbatschows Frau Raissa las Hegel im Original. Die Bedeutung beider füreinander ist legendär. Also hatte Gorbatschow wohl einen Zugang zur europäischen Philosophie der Aufklärung. Er war Teil des Diskurses der europäischen Freiheitstraditionen. Alexander Jakowlew, sein enger Mitstreiter im Politbüro beschreibt diesen Diskurs mit ihm des Öfteren. Schon deshalb, aber nicht nur deshalb gehört Russland zu Europa. Ohne ihn hätte die DDR nicht demokratisiert werden können. Wir Ostdeutschen haben den Westen aus dem Osten erhalten.

Man tut Gorbatschow Unrecht, wenn man sein Handeln als eine Kapitulation vor dem Westen interpretiert. Das Gegenteil ist der Fall. Er hatte ihn verinnerlicht, er hat ihn in der SU einzubürgern versucht. Und er war ja nicht gänzlich erfolglos damit. (Übrigens auch deshalb, weil nicht alle Russen nur Untertanen oder nationalistisch gesinnt sind.)

Bis heute lesen sich seine beiden großen Reden vor der UNO 1988 und 1989 vor dem Europarat wie eine Neuformulierung der Kant‘schen Friedensphilosophie. Gorbatschow hat nicht nur gehandelt, er hat auch kommuniziert. Er hat seine Politik erklärt. Und seine Worte, Dezember 1988 in der UNO-Vollversammlung gesprochen: „Mit Gewalt lassen sich außenpolitische Probleme nicht lösen, nicht einmal mit der Androhung von Gewalt. Und das hat nicht nur mit den Atomwaffen zu tun.“, ist eine Verheißung für die nächsten Jahrhunderte. Auf Putin dürften sie noch heute wie eine schallende Ohrfeige wirken.

Dabei gehörten Frieden, Kooperation und Zusammenarbeit als außenpolitisches Grundprinzip und innenpolitische Demokratisierung für Gorbatschow zusammen. Denn über beiden steht das Gebot der Selbstbestimmung als unveräußerliches Prinzip staatlichen Handelns. Und so wie ein Volk, eine Gesellschaft selbstverständlich das Recht hat, sein Schicksal selbstbestimmt in die Hand zu nehmen, so sehr haben sich die Staaten und Völker in ihrem Verhältnis zueinander als selbstbestimmt zu akzeptieren und zu respektieren. Deshalb gehören Partnerschaft und Demokratie zusammen, wie zwei Seiten einer Medaille. Und deshalb war es logisch, dass Gorbatschow im Sommer 1989 in Bukarest bei der Tagung des politischen Ausschusses der Staaten des Warschauer Paktes diesem eine neue Grundlage gab: Partnerschaft nach außen, Achtung der Menschenrechte, Gewaltenteilung und demokratischer Rechtsstaat nach innen. Honecker, der an dieser Tagung teilnahm, bekam eine Gallenkolik und musste vorzeitig in die Charité abreisen.

Man könnte einwenden, diese Prinzipien hätte schon die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) beschlossen. Stimmt. Die SU hatte sie unterzeichnet. Gorbatschow setzte sie um. So, und nur so, mit diesen Prinzipien, lässt sich auch in und mit Osteuropa eine Friedensordnung realisieren, in der kein Staat mehr Angst vor seinem Nachbarn haben muss.

Da aber nach Lage der Dinge in Osteuropa nur Russland diese Prinzipien ignoriert und verletzt, muss es primär Russland sein, dass zu ihnen zurückkehrt; zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes seiner Nachbarn, zur Wahrung der Menschenrechte, zu einer Politik der Kooperation und Zusammenarbeit und zum demokratischen Rechtsstaat. Anders ist Frieden in Osteuropa nicht zu bekommen. Und genau das muss das Ziel der westlichen Politik gegenüber Russland sein.

Integration Russlands in eine institutionelle europäisch-atlantische Sicherheitsarchitektur – Punkt 3

Ich habe das schon mal beschrieben. Es war mir aufgefallen bei der Lektüre von Condoleezza Rice und Philip Zelikows Buch „Sternstunden der Diplomatie“, übrigens auch sehr lesenswert.

Gorbatschow schwebte ja ein neues institutionelles Modell der atlantisch-europäischen Zusammenarbeit vor. Er wollte die beiden sich feindlich gegenüberstehenden Militärblöcke Warschauer Pakt und NATO im Zuge der Beendigung des Kalten Krieges auflösen, und durch sein Europäisches Haus ersetzen. Das gelang ihm nicht. Der US-amerikanische Präsident Bush Senior wollte nicht. Dafür gab es Argumente, aber dahinter steckt auch ein Problem.

Wie dem auch sei. Als Gorbatschow auf Bushs anhaltenden Widerstand stieß, den auch der russische Diplomat Valentin Falin nicht zu durchbrechen vermochte, drehte Gorbatschow den Spieß um, und brachte den Beitritt der Sowjetunion zur NATO ins Spiel. In den „Sternstunden“ ist leider nichts über eine Antwort des damaligen amerikanischen Präsidenten zu lesen. Ich vermute, Bush ignorierte dieses Angebot Gorbatschows, das er bei anderer Gelegenheit noch einmal wiederholte.

Dieses Angebot war aber mehr als eine rhetorische und logisch nachvollziehende Floskel. Die Amerikaner hätten das ernsthaft prüfen sollen. Es ging um mehr, als das Recht jeden Staates, sich seine Bündnispartner selbst aussuchen zu dürfen. Wenn es also in Europa nur noch die NATO geben sollte – der Warschauer Pakt hatte sich zu dem Zeitpunkt schon aufgelöst -, warum nicht auch eine demokratisierte Sowjetunion als NATO-Mitglied? Denn wenn es in Europa als militärisches Sicherheitsbündnis nur noch die NATO geben würde und die SU gehörte nicht dazu, dann wäre Russland automatisch isoliert. Und das wäre gefährlich, was sich in der Tat erweisen sollte.

Doch für Bush war die NATO wohl mehr als nur ein Zweckbündnis im Kalten Krieg zur Abschreckung einer aggressiven stalinistischen Außenpolitik, es war wohl auch mehr als ein Sicherheitsanker für den Frieden zumindest in Mittel- und Osteuropa. Bush und sein Vorgänger Reagan sahen nicht nur auf Europa, sondern noch auf ganz andere Konflikte in der Welt, wie z.B. die islamistische Herausforderung. Und sie weigerten sich vor diesem Hintergrund ihr erfolgreichstes militärisches Bündnis, die NATO preiszugeben, das Kind ihrer eigenen Außenpolitik, und wichtigsten Säule ihres eigenen imperialen Selbstverständnisses.

Gorbatschow muss diese Zusammenhänge gesehen haben. Er ließ jedenfalls an der Frage der NATO seine Politik der Gewaltlosigkeit, der Partnerschaft, der Selbstbestimmung und seine Zustimmung zur Deutschen Einheit nicht scheitern. Bush kam ihm immerhin mit der politischen Neuausrichtung der NATO, deren Speerspitze sich nun nicht mehr explizit gegen Moskau richtete, entgegen. Gleichwohl, das Ende des Kalten Krieges hat bei weitem nicht alle Probleme, die mit ihm verbunden waren, zu einer Lösung geführt.

Diese Zusammenhänge lassen auch die merkwürdige Appeasement Politik gegenüber Russland, die vor allem von der Bundesrepublik betrieben wurde, der sich aber auch die EU anschloss, wenn auch mit vorsichtigem Murren, in einem anderen Licht erscheinen. Man kann sie auch deuten als verzweifelten Versuch, die Gefahren der Isolierung Russlands, die durch seine Nichteinbindung entstanden waren, unterhalb der Schwelle gemeinsamer Institutionen zu entschärfen, und so den Frieden in Osteuropa zu sichern. Dieser Versuch ist gescheitert. Letztlich haben die Europäer, vor allem Deutschland bei der Politik gegenüber Russland keine gute Figur gemacht. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.

Die russische Sonderrolle – Punkt 4

Russland befindet sich geopolitisch in einer Sonderrolle. Seiner schieren Größe können seine unmittelbaren Nachbarländer wenig entgegensetzen. Und da bis weit ins letzte Jahrhundert in der europäischen Staatengeschichte der Grundsatz galt, dass Macht gleich Recht ist, und weil die Aneignung fremder Gebiete das Ansehen des eigenen Landes und seines Herrschers mehrte, gab es in Russland kaum einen Herrscher, einschließlich Stalin, der der Versuchung, sein Staatsgebiet auf Kosten seiner Nachbarn zu erweitern, weise widerstanden hätte. So hat sich Russland in seiner Jahrhunderte langen großen Geschichte immer wieder versucht auszudehnen, was in den besetzten Ländern z.T. zu großen Opfern geführt hat, wenn man an Polen denkt, oder das Baltikum. Auch Finnland gehörte einst zum russischen Imperium, auch wenn sich das zaristische Russland hier Mühe gegeben hat, den Finnen eine gewisse Autonomie zu geben. Wirklich gefragt worden aber sind diese Staaten und Völker nicht. Von Georgien, einem der ältesten europäischen Staaten überhaupt, oder Armenien, die beide am asiatischen Rand des zaristischen und sowjetischen Russlands lagen, bzw. den ganzen sibirischen Weiten, die sich Russland nahezu ohne Widerstand einverleibt hatte, ganz zu schweigen. Russland hat seine Expansionspolitik immer mit einer gehörigen Portion Russifizierung verbunden, so dass es die kulturellen Eigenarten der besetzten Länder unterdrückte. So gesehen war es kein Wunder, dass es unter den Bedingungen von Glasnost und Perestroika in den sowjetischen Teilrepubliken schnell zu Volkserhebungen bzw. Abspaltungsversuchen kam.

Die Angst vor einem expansionistischen Russland ist verständlich. Sie wird von einer Jahrhunderte erfahrener und erlittener Geschichte gestützt. Der expansionistische Zug Russlands ist ebenfalls tief eingegraben in die russische Geschichte. Er ist wirkungsmächtig. Beiderseitige Erfahrungen und Prägungen stehen sich an den vielen Grenzen, die Russland zu seinen Nachbarländern hat, unmittelbar gegenüber und entfalten eine unheilvolle Atmosphäre - bis heute.

Wir müssen in Europa eine Antwort darauf finden, wie wir diese unversöhnlichen Erfahrungen miteinander in einem gemeinsamen europäisch-atlantischen Haus so unterbringen, dass sie einerseits die Angst der einen aufnimmt, andererseits die expansionistischen Tendenzen Russlands einhegt.

Die jetzige Isolierung Russlands war dafür die denkbar schwächste Strategie.

Russland gehört zu Europa. Also gehört es auch in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur.

Wir Deutschen und unsere Nachbarn haben leidvolle Erfahrungen mit unserer eigenen Sonderrolle in Europa gemacht. Diese Sonderrolle hat zu zwei Weltkriegen beigetragen, der zweite wurde allein und schuldhaft von Deutschland vom Zaume gebrochen. Kein Wunder, dass 1989/90 mancher unserer Nachbarn Angst vor einem durch die Deutsche Einheit erstarkten Deutschland artikulierte. Erst die Einbindung in die Sicherheitsstrukturen von EU und NATO hat die Sorgen der Briten und Franzosen entkräften können, und ihnen ermöglicht, der Deutschen Einheit ihren Segen zu geben.

Es gab also Argumente für den Antrag Gorbatschows, Russland in die NATO einzubringen. Und es gibt sie heute noch.

Als allerdings Putin selbst diesen Wunsch gegenüber dem Präsidenten Bill Clinton erneuerte, da wäre die Aufnahme Russlands in die NATO bereits wohl ein Fehler gewesen. Denn Putin hatte damit begonnen, Russlands in eine quasi Diktatur hineinzusteuern. Und außerdem hatte Russland - das allerdings begann schon unter Jelzin - mit einem der wichtigsten außenpolitischen Prinzipien Gorbatschows, der Gewaltlosigkeit, gebrochen. Russland marschierte in den 90er Jahren in Tschetschenien ein, und entfesselte dort einen unglaublich brutalen und zerstörerischen Krieg, um diese autonome Teilrepublik in der russischen Föderation zu halten. Putin baute dann die unter Gorbatschow entwickelten Standards von Glasnost, also Freiheit von Zensur, Kunst und Meinung sukzessive ab, er baute die russische Demokratie zurück, und er begann, getreu seiner beruflichen Provenienz, politische Gegner ermorden zu lassen. Und so ein Land gehört nicht in die NATO (Wie eigentlich die Türkei auch nicht, aber das ist ein anderes Thema.). Das Zeitfenster für die Einbindung Russlands in ein institutionelles europäisch-atlantisches Sicherheitsbündnis war jedenfalls verstrichen.

War also vielleicht die Zeit der „Sternstunden der Diplomatie“ gar nicht so glücklich? wurde damals vielleicht ein kapitaler Fehler gemacht?

Die Sonderrolle der USA – Punkt 5

Warum nur haben die Amerikaner auf das Ansinnen, Russland in die NATO aufzunehmen, so ablehnend reagiert? Ich glaube, dass dies mit ihrem eigenen imperialen Selbstverständnis zu tun hat. Denn die USA sind wohl innenpolitisch ein Rechtsstaat, für die freie Wahlen unantastbar sind. Aber die USA sind auch ein Imperium mit einem internationalen Ordnungsanspruch, das sich nicht selten über internationale Rechtsprinzipien hinwegsetzt, sogar bei seinen engsten Bündnispartnern, wie man bei den NSA-Abhörpraktiken, die Edward Snowden ans Licht brachte, erkennen konnte.

Die USA wollen King im Ring sein. Wenn sie schon auf der internationalen Bühne tätig werden, dann wollen sie auch führen. Unipolarität heißt das heute. Manchmal habe ich das Gefühl, dass hinter dem Bedürfnis nach Stärke einfach nur die Angst vor der eigenen Schwäche steckt. (Immerhin wäre das mal eine Gemeinsamkeit von Russland und den USA.)

Auf jeden Fall wollen die USA Russland, ihren ehemaligen Gegenspieler in der bipolaren Welt des Kalten Krieges einfach nicht mehr stark, schon gar nicht ebenbürtig sehen, zu sehr ist ihnen der Kalte Krieg in die Glieder gefahren. Das könnte erklären, warum die US-amerikanische Hilfe bei der Einführung der Marktwirtschaft in Russland unter Jelzin so dürftig und mangelhaft, in gewisser Hinsicht sogar zerstörerisch war. Das könnte erklären, warum Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Carter und lange einer der prägenden außenpolitischen Vordenker im demokratischen Lager, triumphierte, dass Russland ohne die Ukraine nie wieder zu einer Großmacht aufsteigen könne. Wer in diesen Kategorien denkt, der teilt die Welt immer noch in Einflusszonen ein, für den ist es von Vorteil, wenn Russland schwach ist. Und diese Haltung straft sich. Wie man sieht.

Wir müssen also, wenn wir Russland in ein institutionelles europäisch-atlantisches Bündnis integrieren wollen, bei den Amerikanern vorstellig werden. Denn ohne die USA geht sicherheitsmäßig in Europa gar nichts. Und ich glaube, dass es möglich ist, ihr Einverständnis zu erlangen.

VR China – Punkt 6

Ein demokratisches Russland, und das ist denkbar, wäre ein Partner des Westens bei der Lösung des ungleich größeren Problems für den Westen, nämlich den Machtansprüchen der VR China.

Zwischen politischer und wirtschaftlicher Stärke eines Landes besteht ein enger Zusammenhang. Es war ja kein Zufall, dass die Sowjetunion in ihre existentielle Krise geraten ist. Dafür war ja bei weitem nicht nur der Kalte Krieg verantwortlich. Ein Land, das seinen Bürgern einen hohen Lebensstandard vermitteln will, braucht eine effiziente Wirtschaftsordnung, die die Gebote der Ökonomie beherzigt: und es braucht einen demokratischen Rechtsstaat, ohne den seine Bürger ihre Kreativität und ihre Leistungsfähigkeit nicht entfalten können. Ohne diese Institutionen geht heute, in Zeiten der fortgesetzten Industrialisierung, eine Gesellschaft, gehen ihr Staat und ihr Land zu Grunde. So paradox es klingt. Gerade Diktaturen, die nach außen und innen so sehr auf die Stärke ihres Staates setzen, bräuchten dafür dringend Marktwirtschaft und Demokratie.

Das nach wie vor diktatorisch verfasste China ist da keine Ausnahme, auch wenn es mit Hilfe der Marktwirtschaft, die Deng Xiaoping eingeführt hat, ganz erheblich erstarkt ist. Aber die absolutistisch regierende kommunistische Partei der Volksrepublik China, unterdrückt die in ihrem Land anwachsenden sozialen Spannungen und ethnischen Konflikte nur; und das wird nicht ewig funktionieren. Einstweilen aber plustert sich China immer mehr auf, und ist zu einer echten Gefahr für den Frieden in der Welt und seine Voraussetzungen, Kooperation und Partnerschaft geworden. Der globale Konflikt, in dem wir uns gegenüber China bereits heute befinden, wird nur mit einem breiten Bündnis jener Ländern, für die Demokratie und Selbstbestimmung unverzichtbar sind, zu lösen sein.

Von daher könnte schon der Versuch Russland zu einem demokratischen Partner und Teil des Westens zu machen, verheißungsvoll sein.

Wirtschaftliche Stärke Russlands – Punkt 7

Bereits Gorbatschow ist die Einführung der Marktwirtschaft in seinem Land mißglückt. Hier war er zu zögerlich, zu byzantinisch, beschreibt Jakowlew dieses Drama. Jelzin, dem Russland nach dem Putsch 1991 zu Füssen lag, hat die Wirtschaftsfrage nicht gemeistert. Der Westen hat Russland im Grunde alleine gelassen, als es im Chaos seiner unbewältigten Transformationsprobleme versunken ist. Solidarisch geholfen hat niemand, die USA schon gar nicht. Ja, der Westen hat Russland gegenüber viele Fehler gemacht. Aber wie sagte – einmal wieder - Jakowlew so richtig: Die Fehler anderer rechtfertigen die eigenen nicht.

Putin hat sich dann um eine funktionierende Marktwirtschaft gar nicht mehr gekümmert.

Heute liegt die russische Wirtschaft bis auf die Förderung der fossilen Energieträger am Boden. Der Kreml hat zu wenig für eine prosperierende Wirtschaft getan. Auch das war bereits ein Problem der alten Sowjetunion, wie Daschitschew schreibt. Immer, wenn es um die Frage ging, in welche Wirtschaftsbereich eine größere Investitionssumme eingesetzt werden sollte, setzte sich die Erdölindustrie durch, weil sie darauf verweisen konnte, dass hier am schnellsten eine größere Rendite erzielbar ist. So wurde systematisch und langfristig die übrige Wirtschaft vernachlässigt, Doch diese Entscheidungen waren kurzsichtig. Keine Wirtschaft der Welt lebt heute noch vom Export ihrer Rohstoffe allein. (Das wusste übrigens schon Adam Smith.) Wohlstand ergibt sich nicht aus Rohstoffen, sondern aus ihrer Verarbeitung. Und das gilt im Informationszeitalter erst recht. Deshalb muss ein Land Sorge dafür tragen, jene Wirtschaftsbereiche zu entwickeln, in denen vor allem durch Arbeit Geld verdient wird. Erst dort entstehen Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten, wird Leistung nachgefragt und kann gefördert werden, ist sozialer Aufstieg möglich, verbunden mit einer Verbesserung der individuellen Lebensperspektive.

Das ist entscheidend für eine moderne Industriegesellschaft. Eine funktionierende Marktwirtschaft, mit einem sicheren Ordnungsrahmen, mit einem Vertrauen schaffenden Rechtssystem, mit verlässlichen Strukturen ist die Voraussetzung für individuelles Einkommen, beruflicher Perspektive, finanzieller Sicherheit für die Familien, und Chancen für den sozialen Aufstieg. Davon konnten die Russen auch unter Putin nur träumen. Das ist auch der Grund, warum so viele Russen schon vor dem Ukraine-Krieg ihr Land verlassen haben. Es bietet ihnen zu wenig. In der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) spielen Russen eine wichtige Rolle, aber nicht in ihrem Heimatland, sondern in den USA.

Versöhnung und Diskurs – Punkt 8

Jetzt in Zeiten des Ukraine-Krieges führt die Kriegspropaganda das Wort - auf beiden Seiten. Doch wo sind die Stimmen, die an die Zeit danach appellieren? So sehr man der Ukraine wünscht, dass es ihnen gelingt, Putin und seine Truppen wieder aus ihrem Land rauszuwerfen, so wichtig ist es, daran zu erinnern, dass die Ukraine und Russland Nachbarn bleiben werden.

Das geht nur, wenn Ukrainer und Russen aufeinander zugehen, sich als Menschen begegnen, sich als Menschen begreifen, die beide, jeder für sich, Anspruch auf Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts haben, auf die Anerkennung ihrer Würde, oder um es mit den Worten der amerikanischen Verfassung auszudrücken, auf ihr jeweiliges Recht des Strebens nach Glück. Zum Schluss sind alle Menschen gleich. Und erst danach gehören sie zu ihren jeweiligen Völkern. Der Nationalismus in der Ukraine, ohnehin schon etwas übertrieben, ist in der Zeit des russischen Angriffskrieges gewaltig angewachsen. Das kann man verstehen, aber es muss auch Menschen geben, die sich an die Überwindung der gegenwärtigen wachsenden Ressentiments machen. Zukunft gibt es für beide Länder nur als sich tolerierende Nachbarn, nicht gegeneinander. Die Geschichte der Beziehungen der Ukrainer zu Russland und umgekehrt ist blutig und von gegenseitigen Gräueltaten gekennzeichnet. Da muss ich nicht erst Babels Reiterarmee lesen. Ähnliches lässt sich auch von Polen sagen oder von den Balten, oder den Finnen. Sie alle haben ihre schwierige Geschichte mit Russland. Aber sie gehören zusammen; zusammen mit uns, die wir uns klar darüber sein müssen, dass ein Frieden in Europa ohne Osteuropa und ohne Russland undenkbar ist.

Und deshalb wäre es gut, wenn die Propaganda in Russland, aber auch in der Ukraine nicht das letzte Wort hat. Warum gehen wir nicht auf Russland und die Russen zu und suchen Kontakt zu den Menschen, zu den Zirkeln, zu den Studenten, den künstlerischen Kreisen, zum intellektuellen Diskurs über unsere gemeinsame Zukunft? Man darf so etwas nicht den jeweiligen Leadern des Staates alleine überlassen. Dieser Diskurs geht uns alle an. Und auch für Russland gilt, dass politische Veränderungen in den Köpfen beginnen. Es könnte ein Abenteuer sein. Es könnte etwas Neues beginnen. Es könnte sein, dass sich etwas in Europa verändert.