Warum Sie jetzt in die Ukraine reisen sollten1

Ein Sommer-Besuch in Kyjiw

von Andreas Umland2

vom 21.08.2022

Zurück von einer zweiwöchigen Reise nach Kyjiw teile ich hier meine Erfahrungen vom Besuch eines Landes, das unter dem wichtigsten Krieg Europas seit 1945 leidet. Geschichts- und Politikinteressierten kann ich empfehlen, die zentralen und westlichen Regionen der Ukraine zu besuchen. Man sollte freilich sogleich auf die Risiken hinweisen, die mit einer solchen privaten oder beruflichen Forschungs- oder Erlebnisreise verbunden sind. Die Fahrt in ein vom Krieg zerrüttetes Land ist mehr als Extremtourismus.

Vor allem ist Russland in seinem Vorgehen gegenüber der Ukraine unberechenbar. Diejenigen ukrainischen Regionen, die heute noch relativ friedlich sind, können schon morgen massiv angegriffen werden. Wenn Sie in die Ukraine reisen, könnten Sie, wie es bereits einigen ausländischen Zivilisten passiert ist, getötet oder verstümmelt werden. Schlimmer noch, Russland könnte sich dazu entschließen, radioaktives Material oder giftige Chemikalien einzusetzen, um mutmaßliche Feinde Putins in der Ukraine zu töten, wie es bereits auf britischem Boden geschehen ist. Wenn Sie sich in die Ukraine begeben, könnten Sie erschossen, verwundet, vergiftet, infiziert oder/und gefangen werden beziehungsweise in eine logistische Falle geraten, d.h. nicht wieder aus dem Land kommen.

Dennoch hatte ich Ende Juli und Anfang August 2022 in Kyjiw das Gefühl, dass die Wahrscheinlichkeit, von einem Elektroscooter, Fahrrad oder Pkw überfahren zu werden, viel höher war als von einem Schrapnell verletzt zu werden oder in einem einstürzenden Haus zu sterben. Tatsächlich war das kriegsgeplagte Kyjiw vom Sommer 2022 der ukrainischen Hauptstadt in Friedenszeiten, in der ich zuvor 17 Jahre lang gelebt hatte, erstaunlich ähnlich. Natürlich sind die Stimmung und der Rhythmus der Stadt anders als noch vor einem halben Jahr. Es gibt mehr Armut auf den Straßen, eine Ausgangssperre zwischen 23 Uhr und 5 Uhr morgens sowie gelegentliches Sirenengeheul.

Dennoch sind Explosionen sowohl in Kyjiw als auch in der Westukraine seltene Ausnahmen. Die ukrainische Hauptstadt verfügt über ein gutes Luftabwehrsystem, das die meisten russischen Raketen, die versuchen, die Stadt zu erreichen, abschießt. Zwar ist die Spannung in Kyjiw wie überall im Lande zu spüren. Doch ist der eigentliche Krieg im Stadtleben abwesend. Stattdessen versuchen die Kyjiwer, ein Maß an Normalität und sogar gewisse alltägliche Freuden wiederzufinden.

Das öffentliche Verkehrssystem ist weniger dicht als früher. Die U-Bahn verkehrt jedoch tagsüber nach einem eingeschränkten Fahrplan. Sie wird lediglich bei Fliegeralarm außer Betrieb gesetzt. Die Taxidienste sind wieder voll funktionsfähig.

Die Preise in der Landeswährung Hrywnja sind seit Beginn des Krieges stark gestiegen. Ausländische Besucher profitieren jedoch von den günstigen Wechselkursen für harte Währungen und erhalten daher die meisten Dienstleistungen und Waren immer noch billig. Banken, Geldautomaten, private Krankenhäuser, Apotheken und die meisten Geschäfte funktionieren weitgehend normal. Die Straßen im Stadtzentrum sind mit Menschen und Autos gefüllt. In beliebten Fußgängerzonen werden Blumen, Getränke, Imbiss und Eiscreme verkauft.

Die meisten Hotels arbeiten normal. Zahlreiche Websites bieten günstige Zimmer und Wohnungen in der ganzen Stadt an. Die Restaurants sind wieder geöffnet. Viele servieren preiswerte, qualitativ hochwertige Mahlzeiten, eine Vielzahl von Weinen, Spirituosen und Cocktails sowie importiertes und lokal gebrautes Bier. Vor allem die Dutzenden von georgischen Restaurants, die in den letzten Jahren in ganz Kyjiw eröffnet wurden, servieren weiterhin köstliche kaukasische Küche für relativ wenig Geld. Mehrere Strände am großen Fluss Dnipro sind zum kostenlosen Baden geöffnet. Das Angeln ist so beliebt wie eh und je.

Während Benzin in den ersten Kriegsmonaten ein Problem darstellte, scheint die Versorgung jetzt wieder stabil zu sein. Nach Engpässen im März und April hat sich das Angebot in den Supermärkten weitgehend erholt und bietet nun wieder fast alles, was man zum täglichen Leben braucht. Polizei und Soldaten sind zahlreich auf den Straßen zu sehen. Einige Straßen des Regierungsviertels sowie die beiden zentralen Metrostationen in der Kyjiwer Innenstadt sind abgesperrt. Es kann passieren, dass Sie an einer Kontrollstelle aufgefordert werden, Ihren Pass vorzuzeigen. Dennoch ist die Atmosphäre freundlich und halbwegs entspannt. Im Sommer ist Kyjiw keine rasende Partystadt mehr, wie sie es bis 2014 war, als der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann. Dennoch ist Kyjiw auch heute eine europäische Hauptstadt, die zu besuchen und zu erkunden sich lohnt.

Für diejenigen, die sich für Geopolitik, Osteuropa, militärische Angelegenheiten und internationale Beziehungen interessieren, ist die Ukraine heute ein einzigartiges Reiseziel. Hier kann man die Entstehung europäischer Geschichte live beobachten und eine der folgenreichsten Nachkriegskonfrontationen des Kontinents hautnah miterleben. In Städten wie Lwiw und Kyjiw kann man jedoch auch weiterhin die meisten Annehmlichkeiten des modernen Lebens genießen. Eine neue Art von Tourismus zu den Orten der russischen Massenverbrechen in der Nähe von Kyjiw, etwa in Butscha oder Irpin, entwickelt sich. Im Kyjiwer Stadtzentrum gibt es mehrere Ausstellungen zum Thema Krieg. Dazu gehört eine Zusammenstellung zerstörter russischer Kriegsmaschinen, darunter ein Panzer, eine Panzerhaubitze und Schützenpanzerwagen, die vor dem Gebäude des Außenministeriums am Michaels-Platz unter freiem Himmel ausgestellt sind.

Ein Besuch in der Ukraine ist heutzutage nicht mehr so unproblematisch, wie es für Touristen noch bis vor einem halben Jahr war. Wenn Sie jedoch etwas Wichtiges erleben wollen, das derzeit in Europa geschieht, ist Kyjiw der richtige Ort. Die ukrainische Hauptstadt ist nicht mehr bequem zu erreichen, da es in dem Land überhaupt keinen Flugverkehr mehr gibt. Es gibt jedoch verschiedene Zug- und Busverbindungen von Städten wie Warschau und Prag aus. Möglicherweise müssen Sie einen Zwischenstopp in einer ostmitteleuropäischen Stadt einlegen, bevor Sie einen Zug oder Bus direkt nach Kyjiw nehmen können. Wie zuvor benötigen sie zur Einreise einen gültigen EU- Reisepass, einen COVID-Impfnachweis sowie eine Auslandskrankenversicherung.

Ihr Besuch selbst wird im Gegensatz zu den meisten anderen Reisen, die Sie unternommen haben und unternehmen werden eine größere Bedeutung haben. Indem Sie die Ukraine besuchen, können Sie der Welt zeigen, wofür Sie stehen. Wenn Sie in diesen Zeiten nach Lwiw oder Kyjiw reisen, bringen Sie den Ukrainern etwas Hoffnung, Unterstützung und Geld. Ihre bloße Anwesenheit wird den Osteuropäern signalisieren, dass die Sache der Ukraine nicht verloren ist. Auch wenn die Ukrainer, Belarussen und Polen Sie vielleicht noch nicht als Helden betrachten werden, so werden sie dankbar sein, dass Sie Position beziehen und ein gewisses Risiko eingehen, um diese zum Ausdruck zu bringen. Und nicht zuletzt werden Putin & Co. nicht amüsiert sein.

Anmerkung

1 Mit freundlicher Genehmigung des Autors

 

2 Andreas Umland (1967), Dipl.-Pol., M.A. (Stanford), M.Phil. (Oxford), Dr.phil., Ph.D. (Cambridge) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Euro-Atlantische Kooperation Kiew, Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics und Society“, Dozent für Deutschlandstudien an der Kiewer Mohyla- Akademie, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Europa-Ausschusses des ukrainischen Parlaments, Senior Expert bei WikiStrat und Mitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums, Waldaj-Klubs sowie Expertenrates des Komitees für europäische Integration des ukrainischen Parlaments. Beiträge u.a. in „The Wall Street Journal“,

„The Washington Post“, „Harvard International Review“, „The National Interest“, „World Affairs Journal“, „Die Zeit“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und „Die Welt“.