Osteuropa zwischen imperialer Gewalt und nationalstaatlicher Freiheit

Redebeitrag auf den 18. Frankfurter Medienrechtstagen in der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

von Jan C. Behrends1

13. Juli 2022

Gewalt statt Kompromiss und das Ende der neuen Offenheit in Russland als Vorgeschichte von Putins Invasion (Einleitung)

Ich glaube, dass die 1990er Jahre eine große Rolle spielen, sowohl zum Verständnis unserer Gegenwart und zum Verständnis als auch der autoritären und mittlerweile muss man, was Russland angeht, vielleicht sogar wieder von totalitären Strukturen sprechen, die sich dort entwickelt haben, wie auch in anderen Teilen des postsowjetischen Raumes.

Nicht alles, was wir beobachten können, hat sich erst seit dem 24. Februar 2022 entwickelt. Sondern, es gibt eine Vorgeschichte die, historisch gesehen, für uns sehr wichtig ist. Wir sollten sie im Auge behalten, wenn wir verstehen wollen, dass sich 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion die Ukraine so fundamental von Russland unterscheidet, die ukrainische Gesellschaft sich so fundamental unterscheidet von der russischen Gesellschaft. Das können wir nur richtig begreifen, wenn wir sehr genau auf die 1990er-Jahre hinsehen, auf die Entwicklung des politischen Systems, aber auch der Öffentlichkeit in unterschiedlichen postsowjetischen postkommunistischen Staaten.

Wo fängt man da an? Abholen kann ich Sie sicherlich alle mit dem Begriff der Glasnost aus der Zeit von Michail Gorbatschow. Glasnost heißt ja auf Deutsch „Öffentlichkeit“ und war ein großes Versprechen der „Umbauten“, der Perestroika, insbesondere ab dem Jahr 1988, als eben diese Glasnost mit etwas Verspätung die Perestroika begleitet hat drei Jahre, nachdem Gorbatschow an der Macht war. Warum hat Gorbatschow sich damals für diese Öffentlichkeit

entschieden? Er war ja eigentlich ein alter Apparatschik und die Tschernobyl- Krise hat er beispielsweise noch ganz ohne Glasnost und mit den üblichen sowjetischen Lügenmärchen durchzustehen versucht, weil Gorbatschow ein sehr instrumentelles Verständnis von Öffentlichkeit hatte. Er glaubte, dass er die Öffentlichkeit instrumentalisieren könnte, um seinen Reformkurs gegen seine oppositionellen Widersacher durchzusetzen. Das heißt, es gab lange, auch und gerade in Teilen unserer politischen Klasse und teilweise in der historischen Literatur, die Vorstellung, dass es Gorbatschow per se um Liberalität und Pluralität gegangen sei. Wenn man das genauer anschaut, was in den letzten Jahren der Sowjetunion passiert ist, dann ist das allerdings nicht der Fall. Gorbatschow wollte vielmehr die Intelligenz mobilisieren, sich mit ihr gegen die konservativeren Kräfte in der kommunistischen Partei zu verbünden. Tatsächlich kam es dann ab 1989/90 sozusagen zu einem, wenn Sie so wollen, Kontrollverlust über die Öffentlichkeit und zu einer wirklichen Pluralität und Liberalität in diesen letzten Jahren der Sowjetunion. Das war aber, das wissen wir mittlerweile recht genau, weil wir die internen Akten jetzt kennen, war keineswegs die Intention.

Wie ging es dann weiter in den 90er-Jahren? In den 90er-Jahren setzt sich dieser Kontrollverlust gegenüber der Öffentlichkeit fort. Zu Beginn der Jelzin-Zeit, also zu Beginn der 90er-Jahre, gab es eine kurze Periode, als die sogenannten Reformer an der Macht waren, in der diese Pluralität tatsächlich gewollt war. Man war damals auch ein Stück weit stolz darauf, dass es sehr unterschiedliche und freie Meinungen nun in der Russischen Föderation gab. Ich war zu dieser Zeit selbst als Student in Moskau und kann auch dann bezeugen, dass es in diesen Jahren, wenn man das mit heute vergleicht oder auch mit den frühen Putin- Jahren, eine erstaunliche Meinungsvielfalt und Liberalität gab. Ich glaube aber, dass der Weg weg von diesem Weg in eine liberale Öffentlichkeit schon sehr früh beschritten wurde und dass wir das lange entweder verdrängt, an die Seite geschoben haben, jedenfalls nicht so richtig sehen wollten. Den Beginn dieser illiberalen Entwicklungdatiere ich lange vor der Machtübernahme durch

Wladimir Putin. Ich sehe Putin eher als ein Resultat der 1990er-Jahre und nicht primär als jemanden, der sich ein ganz neues System ausgedacht hat.

Was sind die Tendenzen, die ich schon in den 1990er-Jahren festmache? Man muss da, genau wie heute, wieder über Gewalt und Krieg reden. Es geht zum einen um die Verfassungskrise vom Oktober 1993, als der Machtkampf zwischen dem Obersten Sowjet und dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin durch Jelzin mit Panzern gelöst wurde; und nicht mit einem runden Tisch- wir sind ja hier bei der Tagung an der Grenze zu Polen- dem erfolgreichen polnischen Exportprodukt der späten 80er-Jahre. Runde Tische sind der Wille zum Kompromiss und genau das sehen wir in Russland nicht. Hier wird der Machtkampf zwischen Obersten Sowjet und Jelzin durch eine Panzergruppe aus der Nähe von Moskau gelöst. Das ist ein sehr radikaler Schritt, wenn Sie überlegen, dass man sich zum Beispiel für die Breschnew-Zeit Panzer in der Mitte Moskaus eigentlich gar nicht hätte vorstellen können, in der sowjetischen Zeit war das eigentlich undenkbar. Das ist aber der Politikstil, der damit in Russland etabliert wird. Ein Politikstil, der im Zweifelsfall auf die Gewalt setzt: auf die Gewalt, auf die Wahlfälschung wie bei der Kampagne zur Wiederwahl Jelzins 1995/96. Oder auch 1995 schon, weil man diese demokratische Legitimität doch als sehr fragil ansah: der Rückgriff auf die sowjetischen Mythen mit den großen Feiern 1995 zum Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland. Zum ersten Mal gab es wieder die große Militärparade auf dem Roten Platz 1995. Auch das war nicht unter Putin, das war schon unter Jelzin. Auch hier wurde schon der Grundstock gelegt für diese spätere Militarisierung und den Kult des Großen Vaterländischen Krieges, den Wladimir Putin, wie Sie wissen, mittlerweile in absurde Höhen getrieben hat.

Doch es gibt auch andere strukturelle Gründe, die wir benennen können, neben dem Krieg und der Gewalt. Den Tschetschenienkrieg habe ich vergessen jetzt hier zu erwähnen, 1994, der natürlich hier auch eine Rolle spielt. Er spielte auch eine große Rolle bei der Wiedereinsetzung der Zensur. Hier verschwinden auch die ersten Journalisten und Journalistinnen: Dieser Krieg war eine wichtige Etappe auf diesem illiberalen Weg Russlands.

Was wir aber auch nennen müssen und das ist gerade hier in Ostdeutschland wichtig, aber auch, wenn man Polen oder Tschechien anschaut, sind die fehlenden strukturellen Veränderungen in Russland. Ja, ich rede vom KGB. Der KGB, im Unterschied zur Staatssicherheit hier in Ostdeutschland oder zu den Staatssicherheitssystemen in Ostmitteleuropa, wird er nicht aufgelöst. Der KGB mit seiner ganzen illiberalen Tradition, mit seiner ganzen Tradition der Unterdrückung von Öffentlichkeit und Journalisten und so weiter wird nur unbenannt, ein bisschen umstrukturiert. Aber eigentlich beginnt auch der KGB bereits unter Jelzin und nicht unter Putin sein Comeback. Wenn Sie sich erinnern, wann Yevgeny Primakov, der selber einen KGB-Hintergrund hatte, Außenminister und dann auch Premierminister wurde, das war unter Jelzin. Und damit ist sozusagen das Comeback der Leute, aus den Reihen der sogenannten Silowiki, bereits eingeläutet. Und, dass die Wahl dann am Ende der 90er-Jahre nicht auf so Jemanden wie Anatoli Tschubais oder Boris Nemzow fällt, sondern auf jemanden wie Wladimir Putin, auch mit einem Geheimdienst-Hintergrund, das erklärt sich schon aus diesen Entscheidungen der 1990er-Jahre.

Was in den 90er-Jahren dann auch endet, langsam endet, ist die historische Aufarbeitung der Verbrechen der Sowjetunion und die Öffnung der Archive. Die Archive bleiben zwar zunächst noch offen, aber sie werden nicht mehr weiter geöffnet. Die KGB-Archive werden zum Beispiel nicht geöffnet, was in der Ukraine und in Litauen später dann geschehen ist. Diese Archive blieben in Russland verschlossen und auch hier, kann man wieder eine Erklärungslinie zum Krieg und zur Gewalt ziehen: Ein Staat, der unter Jelzin selbst, schon wieder in Tschetschenien einen völkermörderischen Krieg führt und sich durch diesen gewaltsamen Putsch von 1993 etabliert hat, der kann auch kein großes Interesse daran haben, dass weiter die historischen Verbrechen der Sowjetunion massiv thematisiert werden. Weil man viel zu sehr hier in einer Kontinuitätslinie steht, die allzu offensichtlich ist. Und, wie ich am Anfang gesagt habe, Putin ist dann nur das Resultat dieser 1990er-Jahre.

Und natürlich ist sein erstes Projekt, die Gleichschaltung insbesondere der Massenmedien. Zunächst werden noch einige liberale Inseln für 20 Jahre weiter existieren, wie „Nowaja gazieta“. Sie kennen den Nobelpreisträger des letzten Jahres. Oder der Radiosender „Echo Moskwy“. Doch mit alldem ist Schluss seit Februar diesen Jahres, seit 2022. Und was wir jetzt erleben, können wir unter der Fragestellung diskutieren, der Renaissance nicht mehr autoritärer Herrschaft, sondern, was wir hier in Russland sehen, ist die Renaissance totaler Herrschaft in Europa im Zeichen des Angriffskrieges.

Imperiale Erinnerungspropaganda contra nationalstaatlichem Freiheitsdenken (Schlusswort)

Ich würde das was manchmal gesagt wird. teilweise anders begrifflich darstellen. Zum Beispiel würde ich nicht von Gedächtnispolitik im Zusammenhang mit Russland sprechen. Das impliziert für mich doch irgendwie, dass da ein demokratischer oder zumindest irgendwie pluraler Prozess im Gange ist. Es gibt vielleicht eine französische oder eine deutsche Gedächtnispolitik, aber es gibt eine russische Geschichtspropaganda und man soll es ja auch Propaganda nennen. Auch, wenn wir das Wort heute ein bisschen hässlich finden und es vielleicht nicht mehr so schön über die Lippen geht. Und die ist auch nicht nationalheroisch, sie ist imperial. In Russland gibt es keinen Nationalismus. Da gibt es Imperialismus und der Unterschied ist der, dass sie nämlich über Russland hinaus gelten wollen. Man will auch die Polen oder die Ukraine oder die Deutschen auf das Befreiungsnarrativ verpflichten. Deswegen ist die russische Geschichtspropaganda im hohen Maße imperial, weil sie in sich den Kern der Unterwerfung der anderen europäischen Narrative trägt.

Das ist bei ukrainischer Geschichtspolitik nicht so. Den Ukrainern ist relativ egal, was wir über Stepan Bandera denken, wir springen bloß bei jeder ersten Gelegenheit darauf, als wenn das eine Riesensache wäre, weil wir das von den Russen gelernt haben. Das ist insofern falsch, weil jeder, der schon mal länger in der Ukraine weilte, weiß, dass das eine relativ imaginale Figur ist. Und wenn wir hier über den Stalinkult sprechen, der in Russland unter Putin reanimiert wurde, dann muss man zum Vergleicht sehen, dass Stalin in einer Reihe mit Hitler und Mao steht. Bandera, wenn überhaupt steht dagegen in einer Reihe mit Napoleon, Bismarck, Pilsudski, usw..

Bei nationalen Erinnerungsnarrativen gibt es immer ein bisschen fragwürdige Helden in europäischen Nationen. Da würde ich auch Bandera hinzuzählen. Sein Bruder, soweit ich weiß, ist in Auschwitz umgebracht worden. Er saß zwei Jahre im deutschen KZ. Ich weiß nicht, ob wir uns als Deutsche da so weit aus dem Fenster lehnen wollen. Bei uns reißt auch keiner die Bismarck-Denkmäler ab, obwohl Bismarck auch Antisemit war und den ein oder anderen Krieg zu verantworten hatte, mehr als Bandera. Aber da kann man natürlich geteilter Meinung sein. Man kann auch bei Osteuropa immer gleich nur an Nationalismus denken. Ich habe nicht das Gefühl, dass, wenn ich mich in der Ukraine befinde, ich mich in einer sehr nationalistischen Gesellschaft bewege, sondern im Gegenteil. Ich nehme das als eine sehr pluralistische Gesellschaft war. Ich glaube, dass sie ein geringeres Nationalismus-Problem haben als beispielsweise Deutschland oder Frankreich, die zwischen zehn und 30 Prozent, oder in Frankreich sind es mittlerweile fast 50 Prozent, antieuropäische Parteien haben. Davon kann in der Ukraine keine Rede sein, die Ukraine hat auch einen jüdischen Präsidenten gewählt, wie wir alle wissen. Wann war das denn in Deutschland das letzte Mal der Fall? Also ich finde, diese ganze Bandera-Sache, die sollten wir uns mal abgewöhnen, das bringt überhaupt nichts.

So viel zu Osteuropa. Ich glaube, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen nationalen Erinnerungs- oder Geschichtspolitiken, die wir in 14 anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sehen. Wir haben nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Land, das weiter Imperium bleiben will, und das ist Russland. Deswegen macht es auch eine imperiale Politik und wir haben 14 verschiedene Formen von Nation-Buildings-Prozessen, und natürlich gibt es da auch Nationalismus, die wir beobachten können. Von Estland bis Georgien bis nach Turkmenistan. Aber, diese sind alle nicht imperial. Das ist eine völlig andere Qualität als in Russland, sondern sie sind nach innen gerichtet, zur Konsolidierung der eigenen Nation und da gibt es auch sehr unterschiedliche Nations-Modelle. Und gerade die Ukraine finde ich besonders vorbildlich, weil sie eigentlich doch das geschafft hat, die Nation als Staatsbürgernation und nicht als ethnisch-definierte Nation zu konstituieren. Das ist etwas, was man loben sollte und nicht immer so darstellen sollte, als wenn wären das in Osteuropa alles schräge Nationalisten. Also gerade Deutschland nach Nord Stream und nach unserer extrem an nationalen Interessen orientieren Osteuropapolitik, die wir in den letzten Jahren unter Frau Merkel gemacht haben, sollten da vielleicht ein bisschen vorsichtiger sein, andere Länder ständig als Nationalisten zu bezeichnen.

Eigentlich bin ich ja Osteuropahistoriker und sollte jetzt aufhören, aber doch noch drei Worte zu Deutschland: Ich glaube, in Deutschland gab es immer diese zwei Fraktionen, die unterschiedliche Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen haben. Es gab immer die Nie- wieder-Krieg-Fraktion und die Nie-wieder-Diktatur-Fraktion. Und diese bekämpfen sich bis heute in gewisser Weise und ich glaube dahinter tobt ein Kampf, der auch bis heute nicht entschieden ist: Ob Deutschland eigentlich ein westliches Land sein soll oder nicht. Und wir sehen immer wieder, dass die Fraktion, die antiwestliche Fraktion, in die Offensive geht, insbesondere, wenn es zum Thema Krieg und Frieden kommt und versucht diese Westbindung Deutschlands wieder in Frage zu stellen. Und die Westbindung geht eben damit einher, dass man nicht auf dieses Pazifistische Nie-wieder-Krieg einsteigen kann und sich in Zukunft an die Seitenlinie der Welt stellt, um moralische Noten an andere Nationen zu verteilen und denen zu sagen, was man machen sollte und gefälligst aufhören sollte Krieg zu führen. Die westliche Nation würde bedeuten, dass man sich an die Seite der Freiheit stellt, womit die Deutschen große Probleme haben. Denn wir in Deutschland haben keinen emphatischen Freiheitsbegriff. Wenn Sie hier In Frankfurt über die Brücke gehen, nach Polen, dann werden Sie eine Nation kennenlernen, die überhaupt keine Probleme hat, sich mit der Ukraine zu identifizieren. Weil sie sofort erkennt: Ah, da geht’s um Freiheitskampf, da sind wir mit dabei, da geht’s um anti-imperialen Kampf, da sind wir mit dabei. Und das ist ähnlich, natürlich auch in Frankreich, Liberté, und in den […] USA, das brauche ich Ihnen nicht zu erläutern.

Da Deutschland in seiner Geschichte nie einen erfolgreichen Freiheitskampf geführt hat, hat es auch diesen emphatischen Freiheitsbegriff nicht. Und das ist unser Problem und nicht das Problem der Ukrainer und Polen, die da irgendwie falsch ticken. Sondern das ist unser Problem, dass wir nicht wirklich im Westen so angekommen sind, wie Heinrich August Winkler mit seinen berühmten „langen Weg nach Westen“ behauptet hat. Sondern ganz im Gegenteil, die letzten 16 Jahre unter Merkel im Schlafwagen der Geschichte unterwegs waren und uns völlig verabschiedet haben aus dem politischen Denken und geschlafwandelt sind. Und weil wir ja bei den Medientagen sind, sollte man vielleicht auch mal aufarbeiten, warum wir noch im letzten Herbst überall lesen konnten, wie wir Frau Merkel demnächst vermissen werden. Also, ganz ehrlich gesagt, ich vermisse sie nicht. Und bei allem, was man Negatives über die Ampel sagen kann, kann ich sagen, ich bin nur froh, dass Merkel nicht oder gar Laschet jetzt an der Regierung ist und die Russland- oder Ostpolitik machen würden. Das wäre alles noch viel, viel schlimmer als das, was wir jetzt bei Scholz erleben. Also Laschet strahlte ja geradezu diese Merkel’sche Bequemlichkeit Hoch Zwei aus.

Eine Frage wurde noch direkt an mich gestellt. Natürlich ist Putin eine neue Qualität. Darüber brauchen wir nicht zu reden. Aber wenn man Russland wirklich verstehen will, dann hilft es, in langen Linien zu denken. Und dass man eben auch diese russische Imperialität nur versteht, wenn man zurückgeht, tatsächlich zu Peter dem Großen. Dieses Russland, was wir sehen unter Putin, ist immer noch das Russland Peters. Das hieß zwischendurch Sowjetunion, aber dieser imperiale Gedanke als imperialer Machtstaat aufzutreten und Osteuropa zu dominieren, den können wir über die letzten 300 Jahre sehen.

Und das ist dann mein Schlusswort als Historiker, man soll ja kein Prophet sein als Historiker, aber man darf dann doch vielleicht auf historische Analogien hinweisen. Wir wissen nicht, wie dieser Krieg ausgeht und manche Deutsche haben offenbar große Probleme damit, dass die Zukunft Europas gerade auf dem Schlachtfeld entscheiden wird. Aber das ist jetzt nun mal so, weil es ja keine im Moment keiner Verhandlungsmöglichkeiten gibt. Das wird auch alles nicht in Deutschland bestimmt, das ist das Gute daran. Aber, wenn man sich Russland anschaut, dann sehen wir, wenn Russland Kriege verliert- Stichwort sind der Krimkrieg, 1917, 1989 Afghanistan, da ändert sich etwas in Russland, da kommen nämlich Reformprozesse in Gang. Und diese

Reformprozesse, da Russland in dieser kriegerischen Form nur als imperialer Machtstaat existieren kann, führen auch zu einer gewissen De-imperialisierung. Ich glaube, wenn man sich den ganz langen Bogen der Geschichte anschaut, dann sehen wir, dass Imperien und Russland, das Russland Putins ist ja heute noch ein Imperium, dass Imperien eigentlich ein bisschen das Modell von Gestern sind. Ich glaube, wir sehen hier einen der letzten großen Versuche Imperialität wieder durchzusetzen. Und, dass eigentlich das nationalstaatliche Modell das Stärkere ist, das sich auch auf die Dauer in Osteuropa durchsetzen wird. Denn wir müssen ja auch darüber reden, worum es in diesem Krieg eigentlich geht, der hier ausgefochten wird, nur 1000 Kilometer östlich von hier. Hier geht es darum, ob Osteuropa dieselbe Ordnung haben will, die geopolitische, staatspolitische, internationale Ordnung, wie in Westeuropa. Niemand würde ja behaupten, dass Portugal nicht entscheiden kann, ob es in die EU hineingehen will oder in die NATO oder auch wieder austreten. Die Franzosen sind auch mal aus der NATO ausgetreten. Das ist ein souveränes Land und dasselbe gilt sogar für das kleine Luxemburg. Aber in Osteuropa behaupten die Russen und das ist ja unser Problem und deswegen wird auch Krieg geführt, dass ein Land wie Lettland oder die Ukraine oder auch Polen oder Finnland eben nicht so souverän sind wie Portugal oder Luxemburg. Und, dass sie in Moskau anrufen müssen, wenn sie in die NATO eintreten wollen und sich das genehmigen Lassen müssen und es wird dann natürlich nicht genehmigt.

Und die Frage ist: Haben wir nicht in Deutschland auch ein fundamentales Interesse daran, dass diese Ordnung von 1989, die auch hier mitgeschaffen wurde, auch durch die friedliche Revolution in Ostdeutschland, auch weiter in Osteuropa gilt? Oder wollen wir das aufgeben? Dieses nationalstaatliche Modell, was es ja auch schon mal in der Zwischenkriegszeit gab, Wilson ist das Stichwort. Damals kam zum ersten Mal der Nationalstaat nach Osteuropa. Dann wurde es wieder imperial. Es wurde erst zwischen Hitler und Stalin geteilt, dann hat es sich Stalin in Jalta genommen. Dann kam 1989 und die Russen haben mehrfach unterschrieben, dass sie dieses Modell anerkennen in der Charta von Paris, schon in Helsinki 1975, in der NATO-Russland-Akte. Wenn Sie das lesen, da steht überall, dass Staaten auch in Osteuropa frei ihr Gesellschaft- und Bündnissystem wählen können.

Und die Frage ist doch, ob wir wieder davon abgehen unter dem Druck der sozusagen militärischen Gewalt und sagen, die Ukraine ist kein souveräner Staat, Georgien ist kein souveräner Staat? Wir gestehen ihnen das auch nicht zu in die NATO einzutreten. Oder ob wir bereit sind, auch Opfer dafür zu bringen, diese Ordnung von 1989 auch weiter in Osteuropa zu verteidigen. Denn um nicht mehr und nicht weniger geht es in diesem Krieg. Es geht nicht um die Amerikaner und um die NATO-Osterweiterung. Die NATO-Osterweiterung hat für die Russen überhaupt gar keine Bedrohung gebracht, weil es keine NATO-Truppen in Osteuropa gab durch die NATO-Russland-Akte. Das war ein reiner Papiertiger. Erst nach der Krim-Annexion, sind erste NATO-Truppen überhaupt nach Osteuropa verlegt worden, ab 2014. Vorher gab es zehn Jahre lang die NATO in Osteuropa nur auf dem Papier. Das muss man sich mal vorstellen, wenn man sieht, dass Westdeutschland im Kalten Krieg 600.000 NATO-Truppen plus 600.000 Bundeswehrtruppen hatte. Die NATO war bis 2014 in Osteuropa gar nicht existent. Das ist kein belastbares Argument, was Russland da bringt. Und letzter Punkt dazu: Russland ist auch nicht konsequent vom Westen gedemütigt worden und hat auch keinen Grund beleidigt zu sein.

1J an C. Behrends wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Professur für „Diktatur und Demokratie. Deutschland und Osteuropa von 1914 bis zur Gegenwart“ an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der europaunivesiotät Viadrina.