Was meint Putin, wenn er von Nazis in der Ukraine spricht?

Von Gabriel Berger1

In seiner Rede am 20.09.2022 hat Putin seine These wiederholt, dass es beider „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine um das Niederringen der Nazis ginge, die 2014 mit Unterstützung des Westens das Land im Handstreich eingenommen hätten.

In Deutschland verbindet man mit dem Begriff „Nazi“ in erster Linie die Erinnerung an die im deutschen Nationalsozialismus praktizierte rassistisch motivierte Ausgrenzung von Juden und den an Juden verübten Massenmord. Ein Nazi ist folglich ein Mensch, der der faschistischen Ideologie der Nazis anhängt und deshalb die nationalsozialistische Judenvernichtung für legitim hält. Das macht auch den gravierenden Unterschied zwischen den im 20. Jahrhundert etablierten extremen Herrschaftsformen des Faschismus und des Nationalsozialismus aus. Denn der italienische, spanische, portugiesische Faschismus, usw. waren zwar menschenverachtende Diktaturen, die aber nicht den Antisemitismus als obligatorisches ideologisches Element beinhalteten, im Unterschied zum deutschen Nationalsozialismus.

Was meint dagegen Putin, wenn er die Ukraine, einen Staat mit einem jüdischen Präsidenten, als einen Nazi-Staat bezeichnet? Im Verständnis von Putin, das sich an die ehemalige sowjetische Sicht anlehnt, war nicht die Vernichtung der Juden, sondern die Ausrottung der Slawen, insbesondere der Russen, das primäre Ziel der deutschen Nationalsozialisten. In der sowjetischen Interpretation des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen wurde die rassische Verfolgung und Vernichtung der Juden weitgehend ausgeblendet. Die ermordeten Juden tauchten in sowjetischen Gedenkstätten für Nazi-Verbrechen nur als Sowjetbürger auf. Dieser Interpretation des Nationalsozialismus schlossen sich die Propagandisten der Ostblockstaaten an. Auch in der DDR und in Polen wurden in KZ-Gedenkstätten die jüdischen Opfer nicht explizit benannt, obwohl sie in den meisten KZs die Mehrheit der Opfer ausmachten. Auch wurde in der DDR nie vom Nationalsozialismus, sondern nur vom „deutschen Faschismus“ gesprochen, um die Verwirrung zu vermeiden, wenn Nazis als Sozialisten bezeichnet würden.

Wer sind also für Putin die ukrainischen Nazis? In der heutigen russischen Erinnerungspolitik nimmt der 9. Mai, der „Tag des Sieges“, als der Tag der Befreiung von den deutschen Nationalsozialisten den höchsten Rang ein. Es ist der Tag der Erinnerung an die Millionen sowjetischen Opfer im Kampf gegen die nationalsozialistischen deutschen Invasoren und besonders an die zivilen Opfer, von denen angeblich die meisten Russen waren. Dass unter den Opfern auf sowjetischer Seite auch Millionen Ukrainer zu beklagen waren, wird in der aktuellen politischen Lage ausgeblendet. Stattdessen werden die ukrainischen Nationalisten hervorgehoben, die mit den Nazis bei Morden an bolschewistischen Russen kollaborierten. Als deren ideelle Erben werden die heutigen politischen Führer der Ukraine betrachtet. Die Morde der ukrainischen Nationalisten an Juden und Polen werden dagegen weitgehend ausgeblendet. So entsteht also das Bild der ukrainischen Nationalisten als der ukrainischen Nazis, deren Hauptziel Massaker an Russen gewesen seien. Der historischen Wahrheit widerspricht dies. Auf die geschilderte Art ist die abstruse russische Definition des „Nazis“ aus der Taufe gehoben worden, nach der ein Nazi ein Individuum ist, das die Russen hasst und bekämpft. In diesem Sinne sind die gegen die russische Invasion kämpfenden Ukrainer alle Nazis und der gegen die russische Invasion kämpfende ukrainische Staat ist ein Nazi-Staat. Diese gezielte Umdefinition des Begriffs „Nazi“ hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder kürzlich elegant beschrieben: „Ein Nazi ist ein Ukrainer, der sich weigert zuzugeben, dass er ein Russe ist“

Gabriel Berger

1Gabriel Berger, Sohn kommunistisch-jüdischer Emigranten, lebte bis zur seiner Haft 1976 wegen „Staatsverleumdung“ in der DDR, konnte dann in die Bundesrepublik übersiedeln. Physiker, heute freier Autor.