Friedlicher Sommer in Zelwagi

Treffen von Jenaern 1980 in einer scheinbaren Idylle nahe der sowjetischen Grenze
von Sabine Auerbach


Nebel schwebt noch in einem Meter Höhe über dem ruhigen See. Die Vögel singen schon seit ein paar Stunden, man sieht sie aber nicht. Das Gras fühlt sich feucht und weich an. Die graubraune Katze des Bauern schleicht um unsere beiden Holzbungalows in Erwartung irgendeines Leckerbissens. Gaideck hat schon seinen schönen Kopf aus dem Stall gesteckt. Die milde Luft lässt einen warmen Sommertag erwarten.

Die Anfahrt zu diesem paradiesischen Ort war lang und anstrengend gewesen. Die Prozedur an der Westberliner Grenze zur DDR wie immer nervig und angespannt. Erst die Rückgabe unserer Personalausweise hatte die Gewissheit gebracht, in diesen Urlaub nach Polen an die Masuren fahren zu können. Nahe der Grenze zum sowjetischen Gebiet Kaliningrad. Die direkte Strecke von Westberlin nach Zelwagi maß etwa siebenhundert Kilometer. Ausgebürgerte aus der DDR jedoch mussten statt dieser Strecke Transit durch die DDR fahren bis zur westdeutschen Grenze. Einige Kilometer durch Westdeutschland, dann über die tschechische Grenze und Richtung Nordosten durch die Tschechoslowakei. Weiter über die polnische Grenze Richtung Norden bis an die Masuren. Diese Strecke dauertemindestens doppelt so lang. Hinzu kamen lange Wartezeiten an mehreren Grenzen. Wir trafen uns hier an den Masuren, du mit deinem Freund und Kind aus dem Osten, ich mit Freund und Kind aus dem Westen. Wir konnten nur hier ungestört Urlaub machen.
Wir stoßen mit unseren Zehenspitzen die glatte Oberfläche des Sees an. Er ist kühl, nimmt unsere vorsichtigen Bewegungen auf, verwandelt sie in kleine immer größer werdende Ringe, die vorbei am Schilf auf den See hinaustreiben. Fast gleichzeitig tauchen wir mit den Füßen, Beinen, dem ganzen Körper ins Wasser ein und schwimmen langsam Zug für Zug und schweigend dem aufsteigenden Sonnenlicht entgegen. Auf der Mitte des Sees legen wir uns auf den Rücken. Und wie ist nun dein neues Leben im Westen?  fragst du mit geschlossenen Lidern. Ich mache das, was ich immer wollte, aber es ist anders, als erwartet. Ich rede eine Weile über das Studieren und Arbeiten in Westberlin, wo ich seit meiner Ausreise aus der DDR nun seit neun Monaten lebe. Ich rede und rede hinauf in den Himmel zu den wunderbar weißen Wolken, bis unsere Kinder vom Ufer her schreien, dass sie frühstücken wollen.
Noch während wir vor einem der Holzhäuser saßen und frühstückten, hörten wir ein paar Meter weit entfernt aus einem der kleinen Ställe ein herzzerreißendes Quieken, was nach wenigen Minuten verstummte. Unsere Gespräche brachen kurz danach ebenfalls ab. Ich konnte nicht sehen, warum. Ich saß mit dem Rücken zu den Stallungen. Der Bauer, unser Gastgeber stand nun hinter mir, hob über meinen Kopf hinweg eine große Schüssel, die einen fast ebenso großen Schweinefleischklumpen barg und wünschte uns einen guten Morgen und einen schönen Urlaub in Zelwagi, indem er die Schüssel mit dem noch warmen, blutigen, wabbeligen Fleisch auf unseren Frühstückstisch stellte. Unsere Kinder quiekten nun auch wie die Schweine. Wir vier Erwachsene drückten unseren Ekel weg und bedankten uns freundlich beim Bauern für seine Begrüßung und sein großzügiges Geschenk.

Wie wertvoll dieses Geschenk war, begriffen wir erst, als wir noch am selben Tag nach Mikolajki wanderten, einem größeren Ort mit einem Fleischerladen, der an diesem und jedem Tag, an dem wir ihn besuchten, leer war. Wir schenkten unser Geschenk einer befreundeten Ostpreußin, die meinen Freund seit vielen Jahren kannte, und die uns schon mehrmals in den Ferien aufgenommen hatte, als ich noch aus dem Osten kam. Seit Jahren hatte sie kein Schweinefleisch mehr gesehen oder gar gegessen. Ab und zu gab es Hühnerknochen beim Fleischer zu kaufen, an denen jedoch kein Fleisch mehr klebte. Sie waren aber noch zum Auskochen in Salzwasser zu gebrauchen, erbrachten eine karge Brühe für eine karge Gemüsesuppe. Unsere Freundin aus Mikolajki bedankte sich bei uns mit getrockneten Gemüsestücken und Blumen aus ihrem Garten und wir wanderten die fünf Kilometer zurück nach Zelwagi.
Der Bauer steht lachend neben seinem Pferd. Es ist braun, groß und alt. Komm, sagt der Bauer zu mir, klopft dabei Gaideck auf seinen Rücken. Ich steige auf einen Stuhl, von dort auf eine höhere Holzkonstruktion, die für Milchkannen gebaut ist. Von dort aus auf Gaideck. Ich spüre seinen warmen Körper, er zuckt ein wenig. Ich schaue von oben in die Runde, das erste Mal aus dieser Perspektive auf zwei staunende Kinder und drei Erwachsene. Richte mich auf. Gaideck setzt sich in Bewegung, ich spüre sofort seinen Rhythmus, gleiche mich ihm an, wobei ich mich an seinen hellen dichten Haaren festhalte. Nach zwei Hofrunden bleibt er plötzlich wieder am Holzgerüst stehen. Die Reitprobe ist beendet, ich steige ab. Geduldig trägt Gaideck nun nacheinander die Kinder und dann die drei Erwachsenen, Runde für Runde, manchmal sogar im Galopp. Am nächsten Tag, so verabreden wir es mit dem Bauern, würden wir Gaideck vor einen Holzwagen spannen und den ganzen Nachmittag lang durch die wunderbare masurische Landschaft fahren.
Als wir am nächsten Tag von unserem Ausflug zurückkamen, war die Halbinsel neben dem Hof, die ebenfalls dem Bauern gehörte, voller Menschen. Etwa zwanzig junge Leute und ein paar Kinder waren angereist und bauten bereits ihre Zelte auf. Mein Lebensgefährte hatte diesen Aufenthaltsort vermittelt. Was uns miteinander verband; wir alle hatten vier Jahre zuvor eine Liste unterschrieben. Die Liste war von diesen jungen Leuten aus Jena initiiert  und  nach Erfurt gebracht worden. Wir hatten uns alle mit unserer Unterschrift gegen die Vertreibung eines Liedermachers ausgesprochen und waren nur Stunden später abgeholt worden. Danach hatte sich unser aller Leben für immer und zur Gänze verändert. Wir sprachen nicht darüber. Wir machten jetzt Urlaub in Polen, weil die Ausgebürgerten, aus Westberlin kommend, nicht in die DDR einreisen durften, die Jenaer und Erfurter nicht in den Westen. Polen hatte uns wie selbstverständlich, ohne Tamtam und Getöse Einreise und Aufenthalt für vier Wochen gewährt, die Grenzer waren freundlich gewesen. Keine Kofferkontrollen. Keine übergriffigen Fragen.  Der Bauer hatte uns Hof und Insel überlassen. Morgens brachte er uns frische Eier und geräucherten Aal, den er nachts gefangen und zubereitet hatte.

Unsere Kinder spielten wochenlang mit seinem Sohn Adam und den Katzen auf dem großen Hof. Gaideck mussten wir uns nun teilen, denn diese Ausfahrten an unberührte Seen, dichte Wälder, weite Getreidelandschaften wollten nun alle genießen. Der alte Gaideck zog jetzt jeden Tag geduldig glückliche Menschen durch sein schönes weites Revier. Der Bauer lag glücklich in seinem Liegestuhl und erfreute sich an der Kuh, die er von unserem Geld an ihn gekauft hatte. Er wartete jetzt täglich auf die Geburt seines Kälbchens, denn schlau wie er war, hatte er eine schwangere Kuh gekauft. Wir alle waren glücklich in diesem Sommer in Zelwagi- Polen im Jahr 1980.
Als wir uns vier Wochen später wieder trennen mussten, verabredeten wir uns, nächstes Jahr wieder nach Zelwagi zu kommen.
Doch es kam anders: Du verlorst im Frühjahr dein zweites Kind, im Frühsommer trenntet ihr euch. Im Herbst und Winter 81 kommt es wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation in Polen zu Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der kommunistischen Regierung. Auf sowjetischen Druck rollen Panzer. In Polen wird das Kriegsrecht ausgerufen.
Ich sammelte in Westberlin Geld für Solidarnosc.
Wir sahen uns erst zehn Jahre später wieder, nach dem Fall der Mauer. Wir erstritten uns den Hochschulabschluss, den man uns 1976 verwehrt hatte. Wir fanden wieder zueinander.
Zelwagi bei Mikolajki in Polen aber sahen wir nie wieder.

Dieser Sommer in Zelwagi war reines Glück und Hoffnung auf Veränderung zugleich und schwebt nun nach all den Jahrzehnten noch immer wie Nebel über dem See in manchen meiner friedlichen Träume.

Berlin, März 2022

Nachtrag

Ich erfuhr jetzt nach 42 Jahren, dass damals unmittelbar nach diesem Urlaub  zwei Jenaer (P. Rösch, M. Domaschk) verhaftet und verhört wurden, u.a. zu diesem Treffen: Wer hat das Treffen organisiert?, wer hat es bezahlt?, Wer war dabei?  Was wurde besprochen?.....

Die Stasi-Russenknechte hatten versagt, das Treffen nicht verhindern können und tobten sich jetzt aus.

Sabine Auerbach,

Berlin, Oktober 2022