Neuer Anlauf für virtuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen

 
 
   
 

 

Hollmann: „Klarer Schnitt im Interesse der Opfer der SED-Diktatur“

Das Bundesarchiv stellt die virtuelle Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen neu auf. Dazu wird der Vertrag zur Grundlagenforschung mit dem Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) gekündigt. Das Pilotprojekt hatte zu keinem geeigneten technischen Verfahren geführt, welches das Zusammensetzen der rund 15.500 vorhandenen Säcke mit „Schnipseln“ in einem abschätzbaren Zeitraum zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten ermöglicht hätte. Schon von den vereinbarten 400 Säcken konnten lediglich 23 Säcke (ca. 91.000 Seiten) rekonstruiert werden. Weitere finanzielle Forderungen des bisherigen Auftragnehmers sieht das Bundesarchiv als nicht gerechtfertigt an.

Das Bundesarchiv, zu dem das Stasi-Unterlagen-Archiv seit Juni 2021 gehört, prüft derzeit die nach heutigem Stand notwendigen technischen, qualitativen und quantitativen Anforderungen, um die Aufgabe der virtuellen Rekonstruktion in eine Markterkundung und die Suche nach geeigneten Anbietern zu überführen. Unabhängig davon erfüllt das Bundesarchiv seinen gesetzlichen Auftrag zur Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen durch die manuelle Rekonstruktion. Von Hand wurden in 20 Jahren mehr als 1,7 Millionen Blätter zusammengesetzt, das sind Materialien aus rund 600 Säcken.

Bundesarchiv-Präsident Michael Hollmann: „Mit dem Übergang der Stasi-Unterlagen hat das Bundesarchiv im Sommer 2021 die bisherigen Forschungsergebnisse aus der Zeit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) auf den Prüfstand gestellt. Leider müssen wir feststellen, dass das anspruchsvolle Forschungsvorhaben zur virtuellen Rekonstruktion unsere gemeinsamen Hoffnungen nicht erfüllt hat. Weil wir den Auftrag sehr ernst nehmen und im Interesse der Opfer der SED-Diktatur vorankommen wollen, haben wir uns für einen klaren Schnitt und einen Neuanfang entschieden. Zudem werden wir die manuelle Rekonstruktion weiter fortführen.“

Hintergrund:

Der Vertrag über ein Pilotprojekt zur IT-gestützten Rekonstruktion zerrissener Stasi-Unterlagen war 2007 durch das für Projekte dieser Größenordnung zuständige Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern für die damalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU) geschlossen und 2010 erweitert worden. Ziel war es, eine Software zu entwickeln, die in der Lage sein würde, kleinteilig zerrissene Papiere zumindest zu 80 Prozent automatisiert virtuell wieder zusammenzusetzen und Inhalte aus 400 der insgesamt rund 15.500 Behältnisse mit zerstörten Stasi-Unterlagen wieder lesbar zu machen. Auf der Grundlage der Pilotphase sollte beurteilt werden, ob ein adäquates Massenverfahren der virtuellen Rekonstruktion möglich wäre und welche Kosten hierfür anfallen würden.

Im Herbst 2013 konnte das Fraunhofer IPK nachweisen, dass die von seinen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelte Software, der sogenannte e-Puzzler, prinzipiell funktioniert. Das Verfahren erwies sich allerdings nicht als massentauglich. Insgesamt hat das Projekt zu keiner Zeit die vorgesehene automatisierte Rekonstruktionsquote von mindestens 80 Prozent erreicht.

Aus Kostengründen wurde das Scannen Ende 2013 eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren 23 der vorgesehenen 400 Behältnisse digitalisiert. Die digitalen Abbildungen der „Schnipsel“ wurden bis Ende 2016 unter Personaleinsatz auch von Beschäftigten des damaligen BStU, unterstützt durch das Fraunhofer IPK, virtuell zusammengesetzt. Im Anschluss verhandelten die Partner über Möglichkeiten einer Fortsetzung des Projekts.

Nach der Übernahme der Stasi-Unterlagen durch das Bundesarchiv fanden diverse Termine mit Vertretern des IPK und Abgeordneten des Deutschen Bundestages statt, um mögliche technische und vertragliche Lösungen mit dem IPK auszuloten. Zudem wurden in die Bewertung die kritischen Hinweise einbezogen, die der Bundesrechnungshof dem damaligen BStU zum Projekt gegeben hatte. Im Ergebnis hat das Bundesarchiv festgestellt, dass das Projekt so nicht durchführbar ist. Das Beschaffungsamt wurde mit der Kündigung des Altvertrages beauftragt, eine eigene Markterkundung wird vorbereitet.