Der Ukraine-Krieg und die Orthodoxe Kirche

von Sebastian Rimestad, Universität Leipzig

18.3.2022

Seit zwei Wochen tobt in der Ukraine ein blutiger Krieg, der nach einem russischen Angriff am 24. Februar begann und nicht so schnell vorüber zu sein scheint. Dabei gehören sowohl die Russen als auch die Ukrainer vermeintlich zur selben religiös geprägten Zivilisation – derjenigen des Orthodoxen Christentums. Die Kriegshandlungen stellen der Orthodoxen Kirche vor große Herausforderungen, stehen sich doch zwei „Brüdervölker“ einander gegenüber. Eigentlich, laut offizieller kirchenpolitischer Ideologie, sollten sie an einem gemeinsamen Strang ziehen, um die Ehre des Orthodoxen Christentums zu bezeugen. Der Krieg Putins ist zwar ein geopolitischer Konflikt,der wenig mit Religion zu tun hat, das aber soll nicht über die religiöse Dimension des Konfliktes hinwegtäuschen. Die folgenden Zeilen sind ein Versuch, diese Dimension zu analysieren.

Als die russische Invasion begann, reagierten religiöse Vertreter in Russland, Ukraine und weltweit mit unterschiedlicher Intensität. Die orthodoxe Kirche der Ukraine ist selbst gespalten. Zum einen in eine Kirchenorganisation, die dem Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill von Moskau, untersteht. Zum anderen in eine seit 2019 bestehende selbständige Ukrainische Orthodoxe Kirche, die vom Ehrenoberhaupt der weltweiten Orthodoxen Kirche, Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel (Istanbul), als solche anerkannt ist. Beide Teile der ukrainischen Orthodoxie reagierten prompt mit Verurteilungen der Kriegshandlungen. Metropolit Onufry von Kiew, der Vorsitzende Bischof der Moskau-treuen ukrainischen Kirche nannte Russland als den Aggressor und war deutlich in seiner Aufforderung die Angriffe zu stoppen und den Frieden wiederherzustellen. Die selbständige Kirche ist sowieso schon anti-russisch und pro-westlich eingestellt, so dass die Verurteilung der russischen Aggression nicht überraschend kam. Bei der Moskau-treuen ukrainischen Kirche kam ihre Stellungnahme angesichts der Abhängigkeit von Moskau durchaus nicht selbstverständlich. Bei den meisten Bischöfen der Russischen Orthodoxen Kirche innerhalb Russlands fiel kein Wort über den „Krieg“ in der Ukraine, ist es doch im russischen staatlich verordneten Narrativ kein Krieg, sondern eine militärische Sonderoperation, um die Ukraine zu denazifizieren.

Der Oberhirte der russsichen orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill I. von Moskau, wiederum verhielt sich zunächst äußerst verhalten . Der Krieg – oder die „Sonderoperation“ spielte in seinem Tagesgeschäft keine Rolle. Um so größer waren die Erwartungen, dass er in der traditionell sehr wichtigen Predigt des orthodoxen Vergebungssonntages – am letzten Sonntag vor der Großen Fastenzeit, in diesem Jahr am 6. März – Stellung beziehen würde. In der Woche davor waren vermehrt Stimmen aus der ganzen Welt laut geworden, die vom Patriarchen ein deutliches Wort gegen das Blutvergießen erhofften. Diese kamen sowohl von Teilnehmern des ökumenischen und inter-religiösen Dialogs als auch von orthodoxen Klerikern und Laien selbst. Eine solche detuliche Aufforderung von Geistlichen der Russischen Orthodoxen Kirche wurde über das Internet verbreitet und hatte bis zum Samstag Abend vor der Predigt fast 300 namentlich genannte Unterschreiber. Allerdings leben und arbeiten eine Mehrheit dieser Unterstützer zwar für die Russische Kirche aber in Ländern ausserhalb Russlands. Es ist unklar, wie viele in Russland tätige Priester, Diakone u.ä. ihre Unterschrift geleistet haben. So eine Unterschrift ist gefährlich, weil neuerdings nach einer Gesetzesverschärfung jegliche „Verbreitung wissentlich falscher Information“ in Russland mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden kann und fast jede unabhängige Berichterstattung über die Ukraine ist in den Augen russischer Behörden „wissentlich falsch“.

Die lang ersehnte Predigt des Vergebungssonntages hat die Erwartungen der Verfasser und Unterstützer der Erklärung in keinster Weise befriedigt. Anstatt den Tag dazu zu nutzen, um für die Vergebung für Sünden zu bitten und für Frieden zu plädieren, war die Predigt gefüllt mit Hass und russischer Propaganda. Ein Drittel davon war Schwulenparaden gewidmet, die laut dem Patriarchen als Feuerprobe für die Aufnahme in die verdorbene westliche Welt gelten würden. Es sei die Weigerung, eine solche Parade abhalten zu wollen, die zum Ukrainekrieg 2014 geführt habe und die laufende „militärische Sonderoperation“ sei nichts weniger als die gerechtfertigte Rückholung der verirrten ukrainischen Schafe aus der vom Westen her indoktrinierten moralischen Verblendung.

Was sich zunächst wie ein Ammenmärchen anhört, hat tiefe Wurzeln in der Orthodoxen Kirche, und nicht nur dort. Es ist das Symptom einer vermenitlichen Spaltung zwischen dem „guten“ Christentum und der „schlechten“ Welt, die heutzutage vornehmlich von kulturpessimistischen Religionsführern beklagt wird. Die Welt befinde sich im moralischen Verfall, eben weil die Kirche sich nicht vehement genug gegen theologisch fragwürdige moderne Entwicklungen stellt. Aus dieser Sicht bestehe eine Kluft zwischen denjenigen, die die unveränderliche Religion als Antwort auf die Fragen der Gegenwart sehen und den anderen, die meinen, Religion sollte sich kreativ mit modernen Entwicklungen auseinandersetzen. Diese angebliche Kluft führt die „wahre“ Religion gegen einen „verdorbenen“ Glauben ins Feld, der nicht mehr im Stande ist, gut von böse zu unterscheiden. Es ist ein ewig wiederkehrendes Problem aller religiösen Systeme, die sich abgehängt von gesellschaftlichen Entwicklungen fühlen. Auch zu Reformationszeiten meinte die Katholische Kirche eine solche Kluft zu erkennen und bekämpfen zu müssen, was bis heute die Spaltung des Christentums in die katholische und protestantische Kirche zu Folge hat, obwohl sich auch Teile der katholischen Theologie sinzwischen mit modernen Entwicklungen abgefunden haben. Für große Teile der Orthodoxen Theologie ist eine derartige Synthese jedoch in weiter Ferne.

Dabei gibt es natürlich auch Orthodoxe Theologen, die sich innovativ mit einer Neubewertung moderner Entwicklungen beschäftigen, mit Demokratie, Marktkräften, der Trennung von Staat und Kirche, nicht-binären Geschlechtstheorien, freiheitlichen Sexualnormen, etc.. Und diese theologischen Strömungen sind nicht nur im Westen zu beobachten, sondern auch – zumindest bis vor kurzem – in Russland. Mit der Predigt vom letzten Sonntag haben diese theologischen Ansätze eine deutliche Abfuhr von der obersten Kirchenleitung erhalten, was eine Weiterverbreitung derartiger Strömungen in Russland massiv erschweren wird. Unter den vielen aus Russland (und Ukraine) fliehenden Intellektuellen der letzten Tage befinden sich auch Theologen, die sich außerhalb Russland mehr Freiheiten erhoffen, ihre Gedanken weiterzuentwickeln.

Gleichzeitig bleiben die meisten russischen Geistlichen dem Patriarchat treu – auch außerhalb Russlands. Die hierarchische Ordnung, also die klare Zurodnung eines jeden Priesters zu einem Bistum und des Bistums zu einem Patriarchat (oder einer nicht-patriarchalen selbständigen Kirche) ist ein sehr hohe Gut in der Orthodoxen Kirche. Somit kann man als Geistlicher nicht einfach seinen Bischof widersprechen. Das Moskauer Patriarchat bleibt das Zentralorgan der Russischen Orthodoxen Kirche und für viele bleibt es unvorstellbar, die kirchliche Zugehörigkeit zu wechseln – zum Beispiel zu einer nicht-russischen Orthodoxen Kirche. Es wäre zwar immer noch die Orthodoxe Kirche, aber die liturgische Sprache, die Musik und die kirchlichen Traditionen wären ungewohnt und fremd. Somit bleibt eigentlich nur der stille Protest, zum Beispiel in Form der Unterschrift unter eine Internet-Petition. Einige Kleriker versuchen auch zu argumentieren, dass es nicht die Rolle des Priesters sei, sich in das politische Geschehen einzumischen. Das mag bis zu einem gewissen Grad funktionieren, aber irgendwann erscheint eine Grenze des Wegduckens erreicht.

Für die bisher Moskau-treue Ukrainische Orthodoxe Kirche ist diese Grenze inzwischen überschritten und eine zunehmende Anzahl der dortigen Bischöfe haben die ersten Schritte zur Trennung von Moskau eingeleitet. In rund einem Drittel der ukrainischen Bistümer wird nicht länger an den Patriarch von Moskau als das Oberhaupt erinnert. . Das ist ein erster, noch harmloser Schritt, denn sie alle nennen den Metropoliten Onufry von Kiew, der wiederum noch nicht aufgehört hat, Kirill seinen Patriarch zu nennen. Es ist aber wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis auch das nicht mehr durchhaltbar ist. Ebenso ist es eine Frage der Zeit, bis das Moskauer Patriarchat in der christlichen Welt als komplett isolierte Institution dasteht. Wie schon erwähnt, haben ökumenische Partner versucht, auf Patriarch Kirill einzuwirken, um bei Putin für Frieden zu einzutreten, aber die Predigten der letzten Sonntage haben alle solchen Hoffnungen zerschmettert.

Metropolit Hilarion Alfejew, der sonst seinem Patriarchen gerne ideologisch nach dem Mund redet, hat sich bisher überhaupt nicht zu den Geschehnissen in Ukraine geäußert. Bei einem Arbeitsbesuch in Damaskus beim Patriarchat von Antiochien am 4. März hat er im öffentlichen Statement die Ukraine mit keinem Wort genannt. Sein letztes auf dieses Thema bezogenes Statement war ein Interview vom 22. Februar, dem Vorabend der russischen Invasion, wo er davon sprach, dass der Konflikt zwischen Russland und Ukraine auf jeden Fall friedlich gelöst werden solle. Auch vorher hat er wiederholt betont, dass die Orthodoxe Kirche eine friedliche Institution sei. Seit Anfang des Krieges werden Stimmen laut, die ein klares Statement von Metropolit Hilarion fordern, allen voran von der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg in der Schweiz, wo er eine Titularprofessur innehat. Am 8. März beschloss die Fakultät, Hilarions Titel zunächst zu suspendieren, bis er sich als Mittler im Konflikt erweist.

Das alles bedeutet, dass das Moskauer Patriarchat in seiner jetzigen Besetzung am Ende ist. Unter den exilierten russischen Theologen läuft schon die Debatte darüber, wie ein Neustart der Organisation aussehen könnte. Patriarch Kirill I. und seine engen Mitarbeiter haben gänzlich ihr Vertrauen verspielt, zumindest aus einer westlichen, aufgeklärten Sicht. Es gibt natürlich sowohl in Russland als auch in der übrigen Welt orthodoxe Gläubige, die die Rhetorik des Patriarchats gutheißen, aber es ist zumindest zu hoffen, dass dies eine Minderheit ist. Einfache Antworten auf komplexe Probleme haben noch nie eine zufriedenstellende Lösung erbracht. Bevor allerdings der Neubau des Patriarchats beginnen kann, muss zuerst der Krieg beendet werden. Dabei ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass die Meinungen der Anführer – sowohl der kirchlichen als auch der weltlichen – nicht immer mit den Meinungen der Gläubigen übereinstimmen. Man kann sehr wohl ein frommer russischer orthodoxer Christ sein ohne den giftigen Aussagen des Moskauer Patriarchens zu folgen.